Wutanfall

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(Weitergeleitet von Jürgen Gutjahr)

Legendäre erste Punk-Band aus Leipzig, 1981 bis 1984.

Obwohl die öffentliche Wirkung der Band objektiv gesehen gering war (kaum Auftrittsmöglichkeiten, Konzerte in engsten Fankreisen, nur durch Mund-zu-Mund-Werbung bekannt gemacht), setzten schon kurz nach Gründung durch das Trio Chaos, Typhus & Rotz Repressalien von Polizei und danach auch der Staatssicherheit (MfS) ein. Waren die ersten Auftritte (August 1981) noch von einer diffus-adoleszenten Frei- und Umsetzung von Aggressionen geprägt, wurde schon bald auch textlich-inhaltlich das als Einengung empfundene Dasein in der DDR thematisiert. Ein Großteil der Texte stammte von Ray Schneider, der kein Bandmitglied aber mit den Musikern freundschaftlich verbunden war. Seine Zusammenarbeit überdauerte die Umbesetzungen und Neugründungen im Band-Umfeld bis 1989 (von L'Attentat bis zum Schwarzen Kanal), in dieser Zeit wurde von ihm z.B. der Klassiker "Leipzig in Trümmern" zweimal textlich neu bearbeitet. Durch den Eintritt des etwas älteren Imad als zweitem Sänger und Gitarristen Ende 1981 bekam dieses Konzept zusätzliche Konturen. Seine Fähigkeiten als Netzwerker bei der Beschaffung von Instrumenten, Technik, einem Proberaum und Auftrittsmöglichkeiten auch außerhalb von Leipzig machten ihn zu einem zweiten Motor innerhalb der Band, gleichzeitig entstanden hierarchische Spannungen, wie sie eben auch unter Jugendlichen üblich waren. Mitte 1982 trennte sich die Band deshalb wieder von Imad und bezog einen neuen Proberaum in der Sternwartenstraße. Dieser gab einer im Februar 1983 von der Staatssicherheit eingeleiteten OPK (= Operative Personenkontrolle) "Stern" seinen Namen. Alle tatsächlichen und vermuteten Bandmitglieder (dazu gehörten inzwischen der als Bassist 1982 eingestiegene Zappa und der als Gastsänger agierende Fan Bernd "Pepsi" Stracke) wurden unter dieser Bezeichnung observiert und regelmäßig verhört, mit dem erklärten Ziel die Band Wutanfall zu "zersetzen", also aufzulösen. Hauptziel als "Rädelsführer" war Sänger Chaos, der sich unter dem zunehmendem Druck inklusive psychischer und physischer Folter bis zum Oktober 1983 aus der Band zurückzog. Gleichzeitig empfand er aber auch das musikalische Konzept Punkrock für sich selbst mittlerweile ausgereizt, er initiierte später mit Zappa das offene Noise/Industrial-Projekt Pffft...!. Den Gesang bei Wutanfall übernahm "Stracke", der gleichzeitig Mitglied bei Imads reaktivierter Formation HAU (= Halbgewalkte Anarchistische Untergrundorganisation) war, die trotz inhaltlicher Differenzen gemeinsame Konzerte mit Wutanfall bestritten, so z.B. den Auftritt beim wichtigen 1.Punkfestival der DDR am 30. April 1983. Zwei weitere hervorzuhebende Konzerte waren eines vom 17. November 1982 im "TAS Club" in einem in der Innenstadt gelegenen Studentenwohnheim der tiefroten Karl-Marx-Universität, sowie der Coup eines sogar provokant offiziell angemeldeten "Einstufungskonzertes" am 30. März 1983 im Kulturhaus "Arthur Nagel" (das selbstverständlich nicht mit der Erteilung einer Spielgenehmigung endete).
Auch nach Chaos' Ausstieg gab es Auftritte von Wutanfall inner- und außerhalb von Leipzig, allerdings vermischten sich Konzept und Repertoire von HAU und Wutanfall zunehmend, vor allem als Imad Anfang 1984 noch einmal als Gitarrist und Sänger hinzukam. Spätestens mit der Transformation von HAU zu L'Attentat wurde dies die vitalere Band. Zappa und Rotz wandten sich anderen musikalischen Ausdrucksformen zu, sie bildeten bereits 1983 eine Hälfte von Delta Z, aus denen 1984 (dann ohne Zappa) HerT.Z. entstand. Gitarrist Typhus verschwand vollkommen von der Bildfläche. Stracke wurde im Sommer 1985 erneut vom MfS inhaftiert, verurteilt und später in den Westen abgeschoben. 1994 fand er heraus, dass Imad Abdul-Majid ihn als IM "Schwarz", später IM "Dominique" der Stasi ans Messer geliefert hatte. Auch der 1986 aus der DDR ausgereiste Zappa wurde ab Frühjahr 1983 als IM geführt, weitere IM's waren im Fan-Umfeld tätig.
Sicher haben sowohl die rigorose "Zersetzung" von Wutanfall als auch die Tatsache, dass mit L'Attentat eine gern fälschlich als solche vereinfachte "Nachfolgeband" weiterexistierte, dazu beigetragen dass von der Band lange Zeit nur der legendäre Name überliefert worden war. Das häufig kolportierte "Demo-Tape" "Leipzig in Trümmern" war kaum mehr als eine unter engsten Freunden und strenger Abschottung kopierte Sammlung von Aufnahmen unterschiedlicher Qualität und Zusammensetzung. Veröffentlichungen waren bis weit nach der Jahrtausendwende dünn gesät, ebenso wie eine systematische Aufarbeitung der Bandgeschichte. Die damaligen Akteure hatten alle, aus unterschiedlichen Gründen, ein ambivalentes Verhältnis zu dieser Vergangenheit. Erst 2017 wurde Wutanfall, gekoppelt mit "Warschauer Punk Pakt", Thema einer inhaltlich und ästhetisch überzeugenden Ausstellung (28. April bis 20. Mai 2017). Das gezeigte authentische Bildmaterial entstammte einem Langzeit-Projekt der Fotografin Christiane Eisler, welche die Band und deren Umfeld bereits Anfang der 80er entdeckt und kontinuierlich dokumentiert hatte, über den Wende-Bruch hinweg bis in die Gegenwart hinein. Ein per Crowdfunding finanzierter exzellenter Bild- und Textband wurde zu dieser Ausstellung präsentiert, dem erstmals eine CD mit einigen aufgearbeiteten Originalaufnahmen der Kultband beigelegt war. Genau ein Jahr später (17. Mai bis 10. Juni 2018) wurde Wutanfall erneut im Rahmen einer Ausstellung präsentiert, diesmal unter dem Blickwinkel "Die Punkband im Visier der Stasi 1981 bis 1984". Kurator war diesmal Jakob "Schrammel" Geisler, der gleichzeitig für das Marienberger Label Truemmer Pogo einen lange überfälligen Vinyl-Gesamtüberblick über das Schaffen der Band von 1981 bis 1983 zusammengestellt hatte. Die Box beinhaltet eine LP mit überarbeiteten Studio/Proberaum-Aufnahmen und eine LP mit einem Livemitschnitt von 1982. Weitere Dokumentationen sind bereits in Planung.

Bandinfo: Ausstellung 2017 | Ausstellung 2018

Besetzung

Musik

Literatur

  • Interviews mit Chaos, Bernd Stracke und Ray Schneider in: "Haare auf Krawall. Jugendsubkultur in Leipzig 1980 bis 1991" (Connewitzer Verlagsbuchhandlung 1999)
  • "Wutanfall. Punk in der DDR 1982 bis 1989. Die Protagonisten damals und heute", Bildband + CD von Christiane Eisler (2017)
  • Booklet Wutanfall - 81 - 83 (2xLP Compilation Box, 2018)
  • Booklet "Heldenstadt Anders. Leipziger Underground 1981 - 1989" (3xLP Compilation Box, 2019)
  • Booklet "Too much future" (3xLP Compilation, 2020)