Schnickschnackschnuck: Unterschied zwischen den Versionen

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Hinter der Garage
ist der Boden schlecht, nur Sand
da wächst nichts außer Spargel
da darf ich ein Beet haben,
da sitze ich, klein und dünn
und frage mich, warum ich "ich" bin


Hinter der Garage
ist es dunkel von dem Baum,
der die harten sauren Äpfel hat,
die will niemand essen,
die muss ich trotzdem auflesen,
das gehört sich so
Hinter der Garage
stinken die Komposthaufen,
das Knöchelchen-Grab der Aufgegessenen
der Tod macht Humus
aus Kartoffelschalen und faulen Äpfeln,
aus dem Ausgeschlossenen
Hinter der Garage
pflanzt der Vater einen Sauerkirschbaum
der wird schon was tragen
so klein und dünn, so schlecht der Boden
sind die Erwartungen hoch
der Tod nebenan ist sein Freund
Hinter der Garage
hängt die Mutter die Wäsche auf (naja, eher daneben)
wenn Unbekannte vorbeigehen, hat sie die im Blick,
die gestopften Kinderstrumpfhosen, durchsichtig an den Zehen,
oft zu kurz und das Nacksche guckt raus
ich frage mich, was das Nacksche dann sieht
Hinter der Garage
darf ich selbst bestimmen
da wächst nur, was ich nicht angebaut habe,
Hirtentäschel, davon wird man blöd, sagen sie,
dann finden sie mich eben blöd, denke ich,
und mein dünnes Beet des Todes
Hinter der Garage
der Zaun, dahinter eine grüne Höhle
ich klettere rüber und weg
die Mutter ruft, ich bin außerhalb ihrer Macht
mein schlechtes Gewissen wirkt nicht, und:
ich kann sie ja hier gar nicht hören
Hinter der Garage
ist erstmal Ruhe
der Vater hat geschrien, das Essen ist nicht fertig,
ich bin faul und muss nach Spargel graben
wer zum Teufel hat diese Dinger angebaut?
ich frage mich, warum ich so schlecht bin
Hinter der Garage
starre ich mit dem Kopf zur Wand,
soll ich überlegen, was ich falsch gemacht habe
vielleicht: kein Unkraut gezogen?
ich bin ungezogen, sagen sie, und ich verstehe nur:
ich bin schlecht, weil ich "ich" bin.
In der Garage
ist eine kleine Tür, fast immer zu
unter dem Baum mit den harten Äpfeln
wenn mein Vater die öffnet
dann ist da ein Spalt und
ein ganz böses Mädchen
Hinter der Garage
liegt der Schädel von einem Vogel
da war das Gehirn drin,
aus dem kamen seine Lieder
komisch, auch Vögel sterben,
ich zerdrücke ihn wie einen Tischtennisball
Hinter der Garage
ist der tote Winkel des Gartens,
da lebt das, was man nicht sehen will
da wird das Schlechte hinausgeschlossen
da ist das Leben hart und sauer
und: da sterben die Lieder
�Herausfallen
Ältere: Den Kopf drehen nach links oben.
Jüngere: Falsch sein.
Falsch ist die Hitze im Gesicht, die Panik im Genick, das Brennen im Hals, das Feuer in der Wanne. Falsch ist die Angst vor Strafe,
Ältere: die Ohnmacht. Vor lauter Angst hochkonzentriert, fokussiert, hyperaufmerksam.
Jüngere: Ganz viel überall, was ich falsch machen könnte. Und dann falsch sein aus Prinzip. Jetzt erst recht. Richtig falsch sein. Yeah, es fühlt sich so dermaßen richtig an.
Ältere: Wer ist Ich? Wer erzählt hier? Ich bin die Leerstelle in meiner eigenen Welt. Die Punkerin ist, dass sie nicht ist. Keine Worte für das Leben, für das Wichtigste, für sich selbst. Keine Worte für nichts.
Jüngere: Ich, auf jeden Fall blauäugig, grünäugig, sehnen, hoffen auf die besseren Menschen.
Irgendwann irgendwo dazugehören wollen. Nicht wissen, wo dazu.
Dazugehören ist zu schön, um wahr zu sein, aber ich will es trotzdem.
Ältere: Das ist die Utopie: Dazugehören wollen. Die Realität aber: Zu nichts, zu niemandem. Herausfallen aus der Kindheit, Herausfallen aus der Familie, Herausfallen aus dem Staat, der bald aus sich selbst herausfällt.
Realsozialismus. Die Utopie bricht sich an der Realität. Die Realität bricht mit. Ich kotze. Die Wahrheit von früher ist jetzt ein Knast, das Volk der DDR.
Ich gehöre zu keinem Volk. Ich bin einzeln, ich bin Einzeller. Meine Frisur ist ein Feind, ist politisch, denkt der Staat:
"Durch ihr Äußeres stört sie das sozialistische Zusammenleben der Bürger in der DDR."
Der Staat hat keinen Platz für uns, für unsere Generation und für unsere Ideen. Kein Vertrauen. Wir haben keine Öffentlichkeit, keine Werkzeuge, keine Mitbestimmung, schon gar keine Selbstbestimmung, keine Handlungsoptionen, keine Macht. Wir sind ja noch klein.
Ich bin eingesperrt in das Land, eingesperrt in das Haus meiner Eltern, Schule, Arbeit, in die Verhaltensnormen, in den Takt der Jahreszeiten, der mich frieren und schwitzen lässt, in den Tagesablauf, in das Aufstehen müssen früh, in die Rhythmen der Institutionen. Stress, schon wieder zu spät, schon wieder zu zeitig, schon wieder daneben, schon wieder die Norm nicht erfüllt, schon wieder versagt, schon wieder unordentlich, schon wieder nicht gut genug.
Stress nicht wegen des Lernens, das ist ja interessant, meistens. Inhalte wie weiches Brot, leicht zu kauen, aber es wird von selbst immer mehr im Mund, wird nachgestopft von den Autoritäten. Ich kaue schneller, es krümelt aus meinem Mund, ich schaffe es, aber es macht keinen Spaß. Ich versuche zu trinken, saftiges Leben, das Brot bleibt trocken. Ich will ja gar keine Torte. Ich will nur bestimmen, wann ich wieviel Brot esse und was dazu. Ich will Englisch mit punkigen Texten lernen, die ich mir übersetze. Wofür soll das gut sein?
Die ganze Zeit Angst, die ganze Zeit zweifeln.
Werde ich jemals jemanden treffen, mit dem ich englisch sprechen kann? Eingehegt vom eisernen Vorhang? Ich bin eingesperrt in die soziale Sicherheit, in das immer Wiederkehrende, in die Einsamkeit, in die Isolation meines Dorfes, in mein Anderssein. Ich isoliere vor mich hin.
Keine Zugänge, Leere, Radio
Sehnsucht danach zu sein, wie ich bin. Aus der Blase der Familie rauswollen, diese Blase, die mich trägt, die ich noch nicht verlassen kann. Nur mein Geist kann fliehen, mit meinem Interesse im Gepäck.
Unerfüllte Sehnsucht, Hunger, Leere an der Zufriedenheit der Menschen um mich herum. Die sind so scheinbar sicher, satt und öde.
Der Hunger, ein schwarzes Loch im Brustkorb, ein Sog im Kopf wie ein Staubsauger, starker Unterdruck. Jeden Ideen-Krümel einsaugen, der anders ist als die Menschen um mich herum. Mein Kopf, mein Körper sind fleischgewordener Unterdruck. Sich von Krümeln zu ernähren ist ein Balancieren auf dem Ungewissen, auf Vagheiten. Leben von Luftwurzeln.
Vermutungen sind die einzigen Sicherheiten. Phantasien von besseren Menschen sind das einzig Nahrhafte, klar.
Sonnabend, ich höre Radio, heimlich, spät nachts. Ein Spalt in der Realität. Die erste Nahrungsquelle für meine Identität, der Unterdruck nimmt kurzzeitig ab, ich sauge den Radiosound wie durch einen Strohhalm in mich ein. Der Druck ist hoch, ich bin aufgeregt, die Spannung steigt an und gleichzeitig endlich ...  endlich ... endlich ein Tropfen auf die heiße Leere.
Eine Stimme inszeniert sich, hypnotisiert mich, erzählt Mythen von Bands, klingt untypisch, klingt androgyn, traurig, begehrlich. Was ist das für ein Typ? Wie hieß die Band nochmal? Ich drücke auf den roten Aufnahmeknopf, das Band rauscht durch die Kassette. Ich lese Krümel am Wegesrand auf, sammle kulturelles Kapital.
Jeder einzelne Gitarrenton geht direkt vom Ohr in die Muskeln, meine Beine zucken.
Jeder einzelne Gitarrenton ist eine Berührung meines gesamten Körpers – innen und außen.
Nur bei harter schneller Musik, nur bei Punk ist diese Berührung weich.
Räume öffnen sich in mir, Konzertlocations, Schlösser. Mit jedem Lied aus dem Radio, mit jedem Atemzug werden sie größer. Meine Wut bekommt einen Platz auf dem Thron, meine Anspannung wird produktive Gewalt, mein Zorn wird zur Zuwendung an diese Welt.
Einmal pro Woche atme ich durch, breche ich, breche ich aus dem Alltag ein in eine Welt voller Nuancen. Einmal die Woche weiß ich: Ich bin nicht die Einzige. Einmal pro Woche habe ich freiwillig Ohrenschmerzen und offene Herzschmerzen. Einmal pro Woche ernähre ich mich von Radiowellen. Nahrung aus der Luft ist Sinn. Ich beschließe, ab sofort Teil dieser Realität zu sein.
Frisur
Ich bin ein Punkt, ein Punkt wie ein Spinnennest, wenn die kleinen Spinnen schlüpfen und jede in eine andere Richtung krabbelt: Der Punkt breitet sich zur Fläche aus.
Sich die Punkerin anziehen, sich den Habitus anziehen, sich den Punk überstülpen und den Punk raushängen lassen, sich mit der Lederjacke ein Verhalten überziehen. Sich ein Verhalten zulegen, sich vom Verhalten frisieren lassen, sich von den Verhältnissen frisieren lassen.
Eine Frisur begehren. Sich von einer Frisur anziehen lassen, von einer Lederjacke, von einem Ohrring im Ohr eines Typen, von vielen Ohrringen im Ohr einer Frau, von rasierten Flächen am Kopf einer Frau, vom schwarzen Lidstrich am Auge eines Typen, von schweren Schuhen am Fuß einer Frau.
Eine Frisur begehren.
Und: Eine Frisur zu tragen begehren.
Ich habe solche Haare wirklich nötig.
Jetzt geht der Vorhang auf. Der Vorhang aus Haaren vor meiner Stirn. Ich erzwinge einen Spalt in der Realität, einen Lichtblick, einen Ausblick, eine Perspektive auf mich selbst, auf die, die ich sein will.
Der Vorhang geht auf, Haare ab, Haare hoch, steil, eine Gebirge aus Haar, Haare wie Messer, die aus dem Kopf stechen.
Meine Frisur ist wie das Sägeblatt einer Kreissäge. Sie sägt Schneisen in den Blick der alten Frau vor der Kaufhalle.
Ihren Blick an dieser steilen Frisur abstürzen lassen.
Ihren Blick an der rasierten Kante abrutschen lassen.
Ihren Blick an der rasierten Fläche entlangraspeln lassen.
Rasierte Flächen an einem Frauenkopf, unmöglich! Glatze. Rasierte Flächen, wo Haare drüberhängen wie ein Vorhang!
Ich säge mit meiner Frisur einen Punkt in die Landschaft. Ich hinterlasse eine Schneise in Blicken, die stechen zurück. Die stechen auf mich, auf die, die sich danebenstellt, die sich rausnimmt und sich danebenstellt, die neben sich steht, die zu sich steht, der niemand beisteht, die neben der Kaufhalle rumsteht und guckt und wartet.
Ich säge mit meiner Frisur Schneisen in die Gewissheit, dass schon alles richtig ist, so, wie es ist. Meine Frisur wird gehasst, stürzt Blicke ins Bodenlose. Ablehnung ist die neue Zustimmung. Falsch ist das neue richtig.
Die alten Frauen rennen mit ihren großblumigen Schichtbeuteln in die Kaufhalle, aus der Kaufhalle. Volle und leere Flaschen klappern. Schnell viel, das Bier in braunen Flaschen, weil die grünen Flaschen nicht schmecken. Mir schmecken auch die braunen Flaschen nicht.
Sie müssen meine Frisur ertragen, müssen sich meiner Frisur stellen, sie müssen die Freiheit ertragen, die ich mir einfach nehme, ohne sie vorher zu fragen. Sie müssen mir den Raum lassen, auch wenn sie ihn mir mit ihren Blicken nehmen wollen. Meine Frisur ist ein Angriff auf ihre Augen, meine Frisur ist ein Angriff auf ihre Sichtweise.
Meine Frisur ist Ablehnung, ist ein Pfiff, der steil nach vorn in den Himmel steigt. Meine Frisur pfeift auf ihre Vorstellungen von Schönheit. Meine Frisur pfeift auf Locken, die sich Lockenwicklern unterordnen, um später wie ein aufgerupptes Sofa in der Ecke zu stehen.
Meine Frisur widersetzt sich dem Kamm, verbündet sich mit dem Kamm, und es entsteht ein Vogelnest. Eine Frisur wie ein Vogelnest, in dem ich absurde trotzige Ideen ausbrüte.
Meine Frisur ist verbündet mit dem Wind, der prustet Ideen aus mir heraus. Meine Frisur ist in jeder Windrichtung ok. wie mein Denken. Heute so, morgen so. Heute so, morgen so.
Anarchie und Pogo
Mir platzt die Linse, sagt der coole Typ, den ich beeindrucken will. Ich bin mitten in meiner Show, der Vorhang ist auf.
„Und, bist du auch Anarchist?“, fragt der coole Typ mit dem Iro. Keine Ahnung, was ein Anarchist ist. Aber ich verstehe: Er fragt, ob ich zu solchen wie ihm dazugehöre. Da sind so viele Ähnlichkeiten: Frisur, Jacke wie Hose. Und da ist meine Sehnsucht, dazuzugehören. Ich weiß noch nicht genau, wo dazu. Ich sage ja, gleichgültig und aufgeregt bis unter die Zehenspitzen.
Ich frage das Fremdwörterbuch, das spricht in Rätseln. Anarchist ist eine Person, die Chaos will, eine Person, die Chaos herstellt, anarchisch, chaotisch. Gedanken in Form von Puzzleteilen finden nicht zueinander, finden nicht an Stellen zueinander, wo sie zusammenpassen. Was ist das mit dieser Anarchie? Meine Sehnsucht nach dem Dazugehören zwingt die Puzzlegedanken zusammen. Mein Zimmer war schon immer unaufgeräumt, chaotisch. Das passt. Ich bin Anarchist. Ich ziehe mir die Anarchie an wie meine Lederjacke mit den Sicherheitsnadeln. Ich ziehe mir Bedeutung an. Ich ziehe mir die Zugehörigkeit an, ich ziehe mir die Zugehörigkeit zu. Ich stelle mich dazu, zu der Gruppe von Punks, die im öffentlichen Raum am Ende der DDR herumsteht. Denn ich bin Anarchist. Da macht man das so. Mich einfach chaotisch danebenstellen und wild gucken, wild aussehen. Zu mehreren nebeneinander laufen, eine Kette bilden. Mit der Frisur die Normalität an die Ränder verscheuchen. Den öffentlichen Raum der DDR bewuchern.
Und dann im Wald- und Wiesenschlösschen, im Utopieschlösschen, im Traumschlösschen. Ein Saal, aus der Zeit gefallen, aus dem die Zeit fällt. Der Glamour zerblättert, die Tapete wirr, der Boden Parkett, vom Tanz der Jahrzehnte behackt. Große Fenster erinnern an große Ansprüche, manche zugemauert. Bier fließt in Strömen, Bier tropft von der Decke, Bier verbindet sich mit dem Dreck der vielen Schuhe, Bier steht im Raum, als Geruch.
Eintritt 2,45 M, aber Beschmu ist leicht möglich. Geld spielt keine Rolle am Ende der DDR.
Eine große Masse freundlicher Leute, Punks und Posthippies, Punk mit den Mitteln der Hippies, Posthippietum mit den Mitteln des Punk. Eine Bühne, gerahmt mit Schnörkeln, gefüllt mit Verstärkern und mit düsteren Typen, in der Mitte die Bassistin, die auch Sängerin ist.
Ich warte darauf, dass mir die Bassistin aus dem Herzen spricht.
Die Musik sticht mich an, schreit mich an, holt mich ab, holt mich ein.
Rumstehen am Rand, ehrfürchtig die Leute angucken, mich berühren lassen von ihren Frisuren, mich umgeben lassen.
In einer Umgebung sein, in die mein Gefühl reinpasst, in die ich reinpassen will, in die ich mich einpasse.
Dabei die Augen aus dem Kopf fallen lassen.
Verknallt sein in unser Leben, in das Witzemachen, in das Worteverdrehen.
Sehnsucht, richtig dazuzugehören
Verknallt sein in das zusammen Rumstehen, in das Fahrradfahren mit den Freunden,
Sehnsucht nach Gesehenwerden,
verknallt sein in die Masse mit diesen krassen Frisuren,
Sehnsucht nach dem Gesehenwerden, wie ich wirklich bin.
verknallt sein in die Musik,
Sehnsucht danach, nicht nur eine Funktion zu haben sondern Funken zu sprühen,
verknallt sein in jeden zweiten Typen
Sehnsucht nach Menschen, die mich aushalten.
verknallt sein in die Punkerfreundin, die in jeden zweiten Typen verknallt ist.
Sehnsucht nach Menschen, die sich für mich interessieren.
verknallt sein in die falschen Leute, zu klein, zu groß, zu schön, zu hässlich, zu nah, zu weit entfernt, zu frech und vor allem zu gut.
Sehnsucht nach den besseren Menschen, bessere jedenfalls, als ich bisher kannte.
Lust am Mund, an den Lippen, am Leben. Zufrieden sein, so sein, hier sein.
Die Musik sticht mich an, die Bassistin schreit mir aus dem Herzen.
Eine Masse, die sich bewegt, die in sich wabert, rast, tobt, wütet, pogt, schlägt, schreit, mich anzieht. Ich will in diese Masse, zu dieser Masse gehören, Teil der Masse sein, größer sein als die Summe der Teile, Teil von was Neuem sein, das Neue leben, das Neue verkörpern, das Neue in die Welt zwingen, ein Spalt in der Realität, vom Rand her.
Rumstehen am Rand, ich zweifle. Nur Typen in der Masse. Ich bin angestochen.
Ist es peinlich? Bin ich peinlich, wenn ich da mitmache? Steht es mir zu? Ich als Mädchen, darf ich rasen, toben, wüten? Darf ich als einzelne Frau Teil der Masse aus Typen sein? Muss ich mich schämen dafür, dass ich das will? Bin ich doof? Bin ich eklig? Darf ich mich in dieses Gefühl fallen lassen? Darf ich einfach Körper sein? Einfach schlagen, rasen, wüten, schreien und mich dabei gut fühlen?
Was ist, wenn ich einfach reinspringe? Lachen sie mich aus?
Nicht schubsen, ich steh nah am Rand. Ich versuche, nicht den Kopf zu verlieren.
Ich klammere mich an die Zügel. Darf ich abspringen?
Ich stehe auf der Kante, die Spannung wächst, ich wachse, die Musik sticht mich an. Ich nehme mir, was mir vielleicht nicht zusteht. Ich will springen, die Knie zucken, wollen Kraft verströmen, Kraft ausüben, Energie umsetzen, Spannung abbauen, neue Energie produzieren.
Die Musik schreit mich an, die Musik sticht in meine Beine. Die Bassistin schaut mich an. Die Bassistin spricht mich an. Die Bassistin singt mit ihrer tiefen Stimme nur für mich. Sie singt über einen Faschisten, der von einer besseren Zeit träumt mit einem Scheißführer an der Spitze.
Und dann – ein Sprung in der Feder, ein Sprung nach vorn. Ich lasse die Zügel los, die Pferde brennen durch, die Sicherung brennt durch. Ich springe in die Masse. Endlich lasse ich meiner Lust freien Lauf, meiner Lust an der Wut auf den Faschisten mit seinem Scheißführer, die Ellenbogen verbreiten, Schläge austeilen und einstecken. Endlich das Neue als ganzer Körper sein, endlich leben, wie ich es will.
Die Musik verschweißt alle zu einem Bündel aus Bewegung und Gliedmaßen, die Musik ist zu laut als dass Unterschiede noch spürbar wären. Im Pogo feiern wir, feiern wir unsere Freiheit in der Gemeinsamkeit, unsere Körperkraft im freien Fall, unsere kontaktfreudigen Körper, dass wir Härte aushalten, Härte austeilen. Und es ist eine solidarische Härte, wie ein permanenter freundschaftlicher Knuff an die Schulter, hart ist das neue zärtlich. Endlich ein Körperkontakt, der mir aus der Seele spricht, endlich hassen und lieben gleichzeitig. Endlich Gesehenwerden, wie ich wirklich bin, ein Sehen mit den Gliedmaßen.
Der Boden ist dreckig, der Boden ist nass. Meine Schuhe sind leicht, meine Schuhe sind glatt, ich habe Mühe, in der Masse mitzuwogen. Die Masse trägt schwere Arbeitsstiefel. Ich habe Frauenschuhe an, feine, die einen schmalen Fuß machen. Ich poge auf großem aber schmalem Fuß und habe es schwer. Ich muss gleichzeitig wütend und achtsam sein, ich tobe und muss das Gleichgewicht wahren, muss innen und Außen austarieren, muss irgendwie Frausein und Raserei in Verbindung bringen, ich muss beim Genießen aufpassen. Durchdrehen und gleichzeitig schick aussehen, die Kontrolle über mein Aussehen behalten, nicht einfach hässlich schwitzen und die Schminke verschmieren. Ich versuche, die Zügel wieder in die Hand zu nehmen. Plötzlich alleinsein mitten unter den anderen. Ich will mich fallen lassen und muss gleichzeitig aufpassen, nicht hinzufallen. Und dann rutsche ich aus, und ich falle.
Aber da pogen Menschen, die mich auffangen, die mich gar nicht erst auf dem Boden aufkommen lassen. Noch im Fallen fange ich andere mit auf, die auch grad hinfallen. Wir fangen uns gegenseitig auf. Wir sind ein Filz, eine pogende Gruppe, permanent in wilder Bewegung, dauernd am Straucheln, stürzen, abstürzen, aber niemand fällt ernsthaft hin, am Ende der DDR in unserer kleinen Anarchie, niemand kommt unten auf dem dreckigen Boden des Konzertsaals auf, alle fangen alle mal auf, niemand fällt auf den Boden der Tatsachen oder wird gar auf dem Boden liegend getreten.
Im Wald- und Wiesenschlöschen, im Utopieschlösschen, im Traumschlösschen träume ich mit offenen Augen und bei vollem Bewusstsein. Ich verstehe, das ist die Anarchie: sofort, unmittelbar, hoffen, sehnen, begehren, träumen bei vollem Bewusstein, das das Sein bestimmt. Das Sein selbst kreieren. Das Sein selbst bestimmen. Mein Körper macht Anarchie, aus dem Bauch raus, mein Körper macht, was er will:
laut leben, herrlich leben,
herzlich leben, herzlich lachen
mir selbst treu sein
mich selbst träumen
eine Wanne vor mir hertragen
mich mit der Wanne wohl fühlen
in mir selbst sein
mich erleben, mich erleiden,
mich selbst leiden können, aber nicht zuviel leiden
in Strümpfen rumhängen
die Schuhe irgendwo, egal, vergessen
das Achselhaar ungekämmt
bunt am Kopf, bunt im Gesicht, blaues Auge
Geschlecht: Punk
Geschlecht: punkegal
Größenwahn entlang der Grenze zwischen Typen und Frauen
Größenwahn gegeneinander und miteinander
miteinander anders sein
sich miteinander erleben
miteinander leiden
sich miteinander breit machen, in alle Richtungen
miteinander breit sein
Sich mit Größenwahn Raum verschaffen, wenn auch nur in der eigenen Vorstellung,
Mit Lautstärke Größe und Raum erzeugen,
mit Lautstärke Räume besetzten,
lautstark Räume besetzen,
sich lautstark in lauen Nächten verkühlen.
sich miteinander verändern
miteinander Angst vor Veränderungen haben
miteinander Angst vor der Zukunft haben
miteinander Angst vor Verlust teilen
miteinander verlieren
miteinander die Angst verlieren
sich miteinander verschwistern
sich miteinander verlieben
sich miteinander anpflaumen
miteinander verwundet sein
miteinander einsam sein
miteinander einzeln sein
einzeln und trotzdem miteinander sein
miteinander laut sein
miteinander herrlich sein
miteinander herzlich sein
miteinander herzlich lachen
Mitbestimmen mit meiner Frisur
Die Anarchie haut mir grad mit der einen Hand in den Bauch, mit der nächsten hält sie mich fest, damit ich nicht falle, und mit der dritten streicht sie mir aus Versehen über den Kopf und macht meine Frisur kaputt. Schon wieder ausgerutscht und nicht hingefallen. Endlich zu Hause, zu Hause im freien Fall, wirklich da, im Wald- und Wiesenschlösschen, in der Utopie, die ihre Türen mitten in der Realität öffnet, ein Spalt des Verstehens, jetzt. Das müssen die besseren Menschen sein, jedenfalls bessere als die, die ich bisher kannte.
Die Musik schreit weiter. Die Bassistin schreit uns an. Die Bassistin schreit mit ihrer tiefen Stimme nur für uns. Sie schreit uns aus dem Herzen. Sie schreit, dass jeder Revolutionär zum Verbrecher wird. Wieso werden Revolutionäre zum Verbrecher? Nicht denken jetzt! Noch ist nicht Revolution.
Das ist der springende Punkt.
Der Punkt springt im Dreieck und tanzt im Quadrat.
Durch den Wald, Freunde und die Schmidten
Ich bin ein einzelner Punkt im Dorf. In der kleinbürgerlichen Ödnis des Dorfs. Oder: Ich bin ein einzelner Punk im Dorf.
Einsam rumsitzen zu Hause. Kein Feld haben. Nichts bestellen. Einsam Energie verschwenden.
Als unnütz bewertet werden.
Die einzige sein. Ohne Telefon. Kein Internet, nirgends. Meine tägliche Isolation überwinde ich heute.
Es ist Winter, Sommer, Herbst oder Frühling.
Ich will, ich muss Freunde besuchen. Jeder ist ein einzelner knalliger Punkt in der Ödnis seines Dorfs.
Ich fahre mit dem Fahrrad durch den dunklen Wald. Kilometerweit. Bei Wind und Sonne, bei Vollmond und Wildschweinwechsel.
Der knallige Punkt bewegt sich durch Felder bei Sonne.
Der knallige Punkt fährt zwischen Teichen bei Wind.
Der knallige Punkt rast über Wiesen bei Vollmond.
Der knallige Punkt hält die Luft an bei Wildschweinwechsel im Wald.
Der knallige Punkt zieht Linien in die Landschaft - mit dem Fahrrad.
Und dann auf den Punkt kommen. Gemeinsam einsam sein. Was kaputt machen, weil irgendwas muss man ja machen.
Lieber was kaputt machen als gar nichts machen. Und dann lieber wieder nichts machen als das machen, was andere wollen. Erwartungen entgehen und da Sinn drin sehen.
Zerstörung aus Mangel an Sinn.
Gemeinsam rumsitzen zu Hause. Gemeinsam kein Feld haben. Gemeinsam nichts bestellen. Gemeinsam Energie verschwenden.
Gemeinsam als unnütz bewertet werden. Wirkungsvoll witzig sein, den Humor an die Wand nageln. Warten auf nichts bestimmtes. Warten auf andere Punks, dass sie vorbeikommen. Warten auf weitere Viren (Virusse), die mich befallen. Warten auf das Unerwartete.
Worte benutzen. Im  Kinderzimmer.
Die Kinderzimmerwand, die Schmidten auf dem Bravo-Poster angucken mit der Frisur wie ein Vogelnest. (Die Schmidten ist in der Bravo, weil die Schmidten macht Musik.)
Die Schmidten ist unser gemeinsamer Nenner, die Schmidten finden alle gut. Aber nur die Platten bis 1982. Wer das danach gut findet, ist hiermit doof.
Die Schmidten ist kein Punk.
Die Schmidten ist Punk für Anfänger.
Die Schmidten macht Wave.
Alle, für die es mit der Schmidten angefangen hat, bleiben ihr treu.
Alle, für die es mit der Schmidten angefangen hat, sind heimlich in sie verknallt.
Die Musik der Schmidten erzählt von Dingen, über die wir noch nichtmal wissen, dass es Worte dafür gibt. Zum Beispiel von Einsamkeit oder Schmerz. (Die Schmidten macht Musik, für die es keine Worte gibt: Einsamkeit und Schmerz z.B..) Die Musik der Schmidten spricht für uns alle, so müssen wir nicht sprechen. Die Musik der Schmidten sagt, wir dürfen traurig sein und komisch aussehen, so wie sie, das ist in Ordnung. Wir sitzen einfach da – im stillen Einvernehmen.
Die Schmidten ist ein Sänger, und dass er auch Gitarrist ist, wissen wir, weil auf dem Poster eine Gitarre drauf ist. Wir gerieren uns als Auskenner. Ja, das Wort haben wir schonmal gehört und jetzt benutzen wir es, bis es uns aus dem Hals raushängt. Weil es intellektuell klingt. Den verschmierten Lippenstift von der Schmidten kann niemand einordnen. Schräg. Krass, Alter. Der verschmierte Lippenstift von der Schmidten bleibt als Widerspruch in unseren Stirnen hängen.
Nebenan kommt der Nazi nach Hause. Wir müssen mal nach dem Rechten sehen, sagt einer. Niemals würde er allein da rüber gehen. War nur ein Witz, haha. Er hat Angst. Vom Nazi nebenan gibt's erstmal nicht auf's Maul, wir sind ihm zu nah. Aber vielleicht später von seinen Nazikumpels auf dem Nachhauseweg. Wir diskutieren, wer jetzt schon wieder zu den Nazis übergelaufen ist. Wer die Schnürsenkel in den Arbeitsstiefeln gewechselt hat, wer keine roten Schnürsenkel mehr trägt sondern weiße. Da kann man nichts machen, das ist das Allerletzte oder sogar das Allerhinterletzte. Da ist so viel, was überhaupt nicht klargeht, das wissen wir genau, deswegen sind wir Anarchist.
Nebenan kommt der Anarchist nach Hause. Wir verehren ihn, denn er war schon vor zehn Jahren Anarchist. Da waren wir erst in der dritten Klasse oder noch im Kindergarten. Er muss sehr klug sein, das wissen wir. Er arbeitet in einer kleinen Bude, wo sie ihn dringend brauchen. Deswegen lassen sie ihn in Ruhe Anarchist sein. Er hat den Wehrdienst total verweigert. Wir wissen nicht genau, warum. (Das steht in seiner Stasiakte.) Wir wissen nur, der kalte Krieg ist irgendwie Scheiße und Weltfrieden wäre total viel besser. Wir verehren ihn aus der Ferne. Wir wissen nicht so genau, was er denkt, aber es muss richtig sein. Wir trauen uns nicht, ihn zu fragen. 
Der Anarchist diskutiert mit seinen Freunden über Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsentfaltung.
Der Anarchist liest Bücher, die mal jemand mit der Schreibmaschine abgeschrieben hat und in einer Kirche kopiert hat – zum innerkirchlichen Dienstgebrauch.
Der Anarchist diskutiert mit seinen Freunden, dass es in der DDR so etwas geben müsste wie die RAF. Die würde hier aber bestimmt nicht Rote Armee Fraktion heißen. Denn die rote Armee ist hier überall präsent. Mit langen Kolonnen auf der Landstraße, 50 km/h. Überholen zwecklos. (Mit dem Russenkoppel, dem Gürtel der einfachen Soldaten, den der Anarchist eingetauscht hat.)
Dem Anarchisten und seinen Freunden ist die Stasi egal.
Dem Anarchisten und seinen Freunden ist klar, dass der Kapitalismus keine Alternative ist.
Aber das wissen wir alles nicht. Wir wollen es vielleicht auch nicht so genau wissen. Denn wir sind Anarchist. Im stillen Einvernehmen.
Worte benutzen, nicht um zu reden. Die Langeweile steht im Raum. Der Langeweile die Worte an den Kopf werfen. Sich mit Worten bewerfen, um die Sinnlosigkeit des Daseins nicht in sich einzuschließen, um der Sinnlosigkeit einen Klang zu geben, um sie zu teilen. Die Langeweile duckt sich weg. (Die Energie bleibt in ihr stecken, die Langeweile ist kraftlos.) Zuckung'n, Alter? Sich mitteilen wollen, aber nur gelernt haben, mit Worten zu werfen, zu maulen mit Wortklötzen, mit groben Satzbauten. So wie die Zeit kann die Langeweile nicht einfach totgeschlagen werden. Maul! Die Langeweile schlägt zurück.
Und sich dann wegschmeißen vor Lachen wegen der Wortklötze. Dumm vorkomm'n (vergumm)? Die Wortklötze zurückschmeißen, die Langeweile treffen. Und dann lachen, kaputtgehen vor Lachen, die Schultern zücken, feixen und Haare auf den Zähnen frisieren. Dumm wie Bohnenstroh. Das Bohnenstroh ernten, die Bohnen wegschmeißen. (Das macht das Kraut nicht fett.)
Wir sprechen in rauhen Tönen, denn wir sind Punk. Das haben wir voneinander gelernt. Dazu performen wir so eine Mundhaltung. Die sehen wir auf Bravopostern. Die Oberlippe angewidert nach oben zucken lassen. So üben wir das vor dem Spiegel, wie wir unsere Frisur üben. Kontrollierter Gesichtsunfall. Kontrollierte Entgleisung der Gesichtszüge.
Der rauhe Ton pflanzt sich fort in unseren Gesprächen. Ich muss die größere Fresse haben, sonst gehe ich unter, sonst kriege ich verbal auf's Maul. Sich Wortklumpen zuwerfen wie die Bälle beim Sport. Manchmal mitten ins Gesicht treffen. Wie ein Spiel, wo es nicht um das Fangen geht sondern um das Danebensein. Danebensein im stillen Einvernehmen.
Ich gehe lieber, bevor mir jemand Wortklumpen zuwirft, die ins Eingemachte treffen. Wenn auch nur aus Spaß. Beleidigung ist das neue Kompliment. Grob ist das neue zärtlich. Frechsein als Kunstform. Die Haare auf den Zähnen nützen manchmal nichts.
Ich fahre zurück mit dem Fahrrad durch den dunklen Wald. Kilometerweit.
Jetzt ein Gruselwald, ein Wald, aus dem nachts Töne kommen, Schreie oder Maschinengeräusche, es ist nicht klar. Wo alte Grenzsteine mit Schnörkelschrift Territorien markieren. Ganz früher ein Moor, ein Sumpf.
Der knallige Punkt bewegt sich durch Vollmond und Wildschweinwechsel.
Der knallige Punkt zieht Linien in die Landschaft. Immer mit Angst, immer ohne Licht am Fahrrad. Ist es die Angst vorm Dunkeln?
Ich muss die Fahrradlampe reparieren.
Ist es die Angst vor der Zukunft?
Ich muss einen Aufsatz über meinen Berufswunsch schreiben. Mein Berufswunsch ist Kunst, aber das ist ja keine Arbeit. Mach lieber mal was Gescheites, hat der Opa gesagt. Metall drehen, Metall feilen ist Arbeit. Mein Berufswunsch ist also, nicht zu arbeiten. Das ist asozial, sagen alle. Ich weiß nicht, was ich in den Aufsatz schreiben soll. Ich weiß nicht, was ich wollen soll. (Ich weiß nicht, was aus mir werden soll.) Ich habe Angst.
Oder ist es die Angst vor dem Geräusch hinter mir?
Es ist die Angst vor der Gegenwart.
Eine Linie aus zerknirschtem Sand hinter mir. Die Linie rückt mir auf den Pelz. Mitten im Wald, mitten im Vollmond. Ein Fahrrad rückt neben mich. Ein Vokuhila sitzt drauf, mit Schnauzbart, Goldkette, einer Stonewashed-Jeansmontur aus dem Westen. Ein mittelalter Typ will mich überholen. Ein mittelalter Typ will mich nicht überholen.
Na, so alleine hier? Er legt mir im Fahren den Arm um die Schultern. Er überschreitet meine Kotzgrenze. Der helle Mond schreit mich an. Ein Gewitter aus Panik befällt meinen Körperapparat. Ich werde zum Wildschwein. Ich greife in seinen widerlichen Vokuhila und ziehe, zerre, reiße, hänge mich dran fest – mit aller Kraft. Ich lasse nicht los. Die Fahrräder gehen zu Boden. Jedes Wildschwein wäre mir jetzt lieber als dieser Typ. (Die wollen ja nur leben.)
Ich kämpfe um mein Leben – mit der bekloppten Frisur, mit der Jeansjacke. Ich kämpfe gegen die Goldkette, gegen den Schnauzbart. Ich trete gegen die Jeanshose. Ich latsche auf die weißen West-Turnschuhe. Meine Panik hat die Situation fest im Griff. Ich reiße und zerre bis der Vokuhila aufgibt. Was stellst du dich so an, du hässliche Krähe, sagt er. Verpiss dich. Assis wie dich haben sie damals vergast bei Adolf.
Vor Empörung bleibt mir der Hals stecken. Hass auf den Typen, Hass auf alles, Hass auf mich.
Ich rase wie ein Wildschwein in den Wald, in die richtige Richtung. Ich bin schon längst weg und trotzdem noch da. Meine Angst hat mich fest im Griff. Meine Angst ist mit mir.
Der Punkt rast auf der Zeitschiene zwischen Vergangenheit und Zukunft. Es gibt keine Gegenwart mehr. Es gibt keinen Punkt mehr, es gibt mehrere Punkte, Doppelpunkt, Dreipunkt. Einer kämpft noch, während der andere durch den Wald rast und der dritte schon längst in Sicherheit ist, in Sicherheit am Wegesrand kotzt. Vor Ekel bleibt mir das Weinen im Hals stecken.
Mein Körperapparat ist lädiert. Mein Körperapparat funktioniert. Mein Körper ist wie alte verlassene Häuser, in denen niemand wohnen will, in die es reinregnet, die vollgemüllt sind und beschmiert.
Da hilft nicht, dass ich ein Lied von der Schmidten vor mich hinschreie, eins über Einsamkeit und Schmerz, eins von vor 1982.
Mein Lippenstift ist verschmiert.
Mein Körper ekelt sich vor Stonewashed-Jeans aus dem Westen.
Mein Körper hat Angst vor Männern mit Minderwertigkeitsgefühlen und Schnauzbart.
Mein Körper schämt sich vor mittelalten Typen mit blöden Frisuren.
Mein Körper ist nicht mehr knallig.
Ich kann es niemandem erzählen. Sonst darf ich nicht mehr raus.
Mein Körperapparat fällt in die Fläche, klappt aus der Fläche in die Linie. Ich ziehe meine Linie ein. Ich reduziere mich auf den Punkt.
Mein Revolution ist, zu existieren. Trotzdem.
In der Kiesgrube
Der Punkt kommt raus aus seinem Verkriechungsloch.
Der Punkt setzt sich als Körper in die Fläche.
Der Punkt zahlt keine 10 Pfennig Eintritt fürs Schwimmbad, für das Schwimmen mit anderen Körpern in der Brühe.
Der Punkt zieht seine lange Linie bis zur Kiesgrube. Rumliegen am steilen Sandstrand, baden neben dem Schaufelbagger, mit dem Fahrad den Abhang zur Kiesgrube runtersurfen.
Mein Badeanzug ist hässlich, oll, ist nicht repräsentativ, ist ein abgelegtes altes Ding, aus dem Westpaket, ist nicht Punk.
Neben den vielen Körpern ist mein Körper auch wieder nur Körper. Was bin ich ohne Lederjacke und mit nassen Haaren? Ich bin wieder Teil der "Menschheit", des nackten Lebens, zu dem ich nicht dazugehören will.
Bin ich wieder drin? In dieser Rolle, aus der ich mich mit Punk absetze, rauswühle? 
Ein Punk im Badeanzug ist wieder nur ein Mädchen.
Die Mädchennorm
Ich hoffe auf die Bravo. Seltene Exemplare dieser Zeitschrift fließen aus dem Westen durch den eisernen Vorhang. Die Bravo ist wertvoller als Gold.
Die Bravo sagt, Mädchen sollen keine schwarzen Klamotten tragen sondern weiße Hosen, weil die unschuldig wirken.
Die Bravo sagt, Mädchen sollen sich weiblich anziehen, kurze Röcke sind aber schlampenhaft. Und, nie zwei Tage hintereinander die selben Klamotten anziehen!
Die Bravo sagt, Mädchen sollen sich für die Bands interessieren, die er mag. Das wirkt cooler.
Die Bravo sagt, Mädchen sollen sich effektvoll das Haar aus dem Gesicht streichen, es lässig zurückwerfen oder mit einer Haarsträhne spielen. Und gleichzeitig sollen sie ihre Hände ruhig halten, damit sie nicht kindisch rüberkommen.
Die Bravo sagt, dass Mädchen sich schminken sollen aber nicht zu viel.
Sie sollen Rouge benutzen, das sieht gesund aus, aber niemals knallroten Nagellack, das sieht tussig aus.
Die Bravo sagt, Nägelkauen und an Lippen rumkauen ist nicht schön.
Die Bravo sagt, Mädchen sollen die Hände aus dem Gesicht nehmen.
Die Bravo sagt, Mädchen sollen Aufmerksameit erregen. Sie sollen absichtlich-unabsichtlich in einen Typ hineinstolpern, weil das niedlich ist. Oder laut lachen mit einer Freundin, wenn er vorbeikommt.
Die Bravo sagt, Mädchen sollen immer lächeln, wenn sie mit einem Typ sprechen, aber nicht zu viel.
Die Bravo sagt, Mädchen sollen eine Typ von unten unterwürfig angucken, weil das süß wirkt. Und gleichzeitig sollen sie gerade und aufrecht gehen, weil eine gute Körperhaltung begehrenswert macht.
Die Bravo sagt, Mädchen sollen sich nicht verstellen, sollen sie selbst sein. Mädchen sollen nicht verkrampft sondern total locker sein, denn das mögen die Boys. Mädchen sollen einfach nur alles richtig machen und sich nicht verstellen, das wirkt total cool und selbstsicher. Dann werden sie geliebt und bekommen Anerkennung.
Die Bravo sagt, dass Mädchen gut riechen sollen, aber nicht zu viel.
"So sollte deine Vagina riechen. Bei welcher Sexstellung verbrennt man die meisten Kalorien? Unser erstes Mal. Wovon kann ich schwanger werden? Wie kann ich ihn oral befriedigen, auch wenn ich sein Geschlechtsteil hässlich finde? Romantische Liebe als Lebensziel. Wenn Jungs Jungs begehren, ist das nur eine Phase, die vorbei geht."
Mädchen, das sind die anderen. Mädchen, das sind die netten, die zarten, die fleißigen, die jeden Tag wie frisch gewaschen riechen, die weiße Pullover und weiße Hosen tragen, die nie schmutzig werden, die nie zu laut sind, aber im richtigen Moment laut genug, die zur richtigen Zeit im richtigen Maß sexy sind, aber nie zu sexy, weil das nämlich nuttig ist. Die in der "richtigen" Dosis sichtbar sind, die nicht reden, wenn man sie nicht fragt.
Ich soll ein Bild abgeben, ich soll ein gesundes fröhliches Mädchen darstellen, naiv und unterlegen.
Das Wort Mädchen quält mich. Ich schaffe es nicht, so ein Mädchen zu sein. Ich hab versagt im Schönheitswettbewerb. Ich schaffe diese Arbeit am Körper nicht. Schminken und die Schminke wieder abwischen. Frisuren machen und die Frisuren wieder glatt kämmen. Mein Körper ist nicht nur mein Gestaltungsspielraum, mein Körper ist ein Schlachtfeld, mein Gesicht ist ein Schlachtfeld, wo die Schminke die Pickel bekriegt. Das einzige, was ich hinkriege, ist das Gegenteil von einem Mädchen zu sein.
Das Gegenteil von einem Mädchen
Ich bin das böse Mädchen in den hässlichen Klamotten. Alte Männersachen, schwarz gefärbt, abgeschnitten. In weißen Hosen fühle ich mich nackt.
Ich bin eine, die immer ihre Hände im Gesicht hat. Ich sehe picklig aus und krank, weil ich kein Rouge benutze. Dafür viel Puder und Schminke, eine dicke Schutzschicht vor Blicken.
Ich bin eine, die an ihren Nägeln kaut, der die Haare ins Gesicht hängen, die beim Stolpern nicht niedlich aussieht.
Ich bin eine, die Aufmerksamkeit damit erregt, dass sie keine Aufmerksamkeit erregen will, die nicht absichtlich laut lacht, die fast nie lacht.
Ich bin eine, die nicht süß ist, die ihre Augen mit dicker schwarzer Farbe umrandet.
Ich bin eine mit krummer Haltung und immer mit Händen in den Hosentaschen.
Ich bin eine, die ihre blonden Haare blondiert.
Ich bin eine, deren Körper nicht so aussieht wie die Körper in der Bravo.
Ich bin eine, die Lippenstift ablehnt, die keine Körperöffnungen betonen will.
Ich bin eine, die sich grad nicht für männliche Geschlechtsteile interessiert und ihre eigene Musik hört.
Ich bin eine, die so ist wie sie ist, unsicher, ungeliebt und total verkrampft.
Ich bin eine, die sich ein Gesicht malt, die sich eine junge Frau ins Gesicht malt, die eine junge Frau vor sicht herträgt, die sie in mir sehen wollen und gleichzeitig nicht sehen wollen. Aber wer malt?
Ich bin eine, die hat eine Frisur, wie sie eine Frau hier noch nie vorher hatte.
Ich bin kein Mädchen, ich bin Punk!
Ich bin keine Jugendliche, ich bin ein Alien.
Ich bin eine absurde Person, eine Unperson, eine die so nicht existieren darf. "Wie du rumrennst! Was sollen die Leute von uns denken?", sagt die Mutter. Ihr den Spiegel hinhalten.
Ich bin Paradiesvogel und hässliche Krähe zugleich. absichtlich. Hässlich ist das neue schön. knallhart ist die neue Norm. Im Hässlichsein noch schön sein sollen.
So existieren können und wollen. Mich anpassen sollen, aber nicht wollen.
Meine Revolution ist, zu existieren.
Meine Revolution ist, trotzdem zu existieren.
Meine Revolution ist Trotz.
Entspannung. Im Körper.
Mir ein Ei schaffen, einen Raum des Verstehens und Verstandenwerdens, eine Enklave, einen Spalt im Felsen, einen Absatz in der steilen Wand. Wenig Platz für ein Nest, für ein Ei. Der Absturz liegt nahe, der Wind ist knallhart, die Position exponiert, sehr sichtbar, sehr gefährdet, sehr wacklig. Der Arsch ist nicht an der Wand, das Schäfchen ist nicht im Trockenen. Der Arsch schwebt im Freien und das Schäfchen ist nass. Der Blick stürzt in die Tiefe. Da unten – die Kiesgrube.
Angezogen sein
Die anderen Körper ziehen ihre Bahnen, im Wasser und am Strand. Mein Körper reagiert auf sie. Manche sind abstoßend,
manche sind mir egal
manche sind eklig
die meisten zu alt
viele zu jung
manche neutral
manche sind anziehend,
manche sind sexy.
Die anderen Badeanzüge ziehen meine Blicke an.
Oder meine Blicke ziehen die andern Badeanzüge an.
Nein, meine Blicke ziehen die anderen Badeanzüge aus.
Nein, oder? Ja, oder?
Die anderen Badeanzüge ziehen meinen Körper an und das, was in ihnen drinsteckt.
Die anderen Badeanzüge ziehen meinen Körper an und das, was in ihm drinsteckt.
Die anderen Körper ziehen meinen Körper an. Aber nur die in den Badeanzügen.
Meine Augen bleiben an den Brüsten in den Badeanzügen hängen. Meine Augen wie Gummibänder, meine Blicke, mein ganzer Körper daran hängen. Mein Körper öffnet sich, setzt sich in Verbindung, in der Phantasie. Die Phantasie fließt vom Kopf in die Zehen und zurück. Hitze. Spannung. Ich zerfließe.
Mein Verstand setzt sich ab, wühlt sich da raus.
Das darf doch nicht wahr sein! Nein, oder?
Was soll das?
Was soll das bedeuten?
Was bedeute ich?
Was will mir dieser mein Körper damit sagen?
Der Körper verweigert die Kommunikation.
Der Verstand hat erstickende Angst.
Das ist so nicht vorgesehen.
Dabei fühlt es sich so gut an. Aber gerade deswegen ist es falsch.
Panische Schuld.
Logisch ist also: Mein Körper ist falsch, ich bin falsch.
Verwirrter Absturz.
Es wäre nicht das erste Mal. Die Musik, die Klamotten, die Frisuren, die ich geil finde, finden fast alle anderen falsch. Falsch, falsch und nochmals falsch.
Der Verstand weiß es besser und geht in eine andere Richtung. Du guckst dir die Körper nur an, weil du wissen willst, wie sie aussehen. So aus Interesse. Du guckst dir die Körper nur an, weil du sie mit deinem vergleichst. Sie hat schönere Brüste aber ihr Gesicht, naja. Meine Brüste sind nicht schön. Mein Arsch ist eigentlich ganz ok. Dagegen ihr Po ... ich vergleiche nur. Ich orientiere mich nur. Das ist nicht schlimm, das ist normal, würde die Bravo sagen, wenn sie darüber schreiben würde.
Selbstverarschung bei vollem Bewusstsein.
Der Körper geht in eine ganz andere Richtung. Er reagiert auf die Brustwarzen unter dem nassen Badeanzug. Eine Körpergier nach Schönheit, eine Gier nach körpereigener Schönheit, eine Gier nach schönen Körpern.
Lähmende Spannung.
Ich schäme mich, ich falle in den Abgrund des Unmöglichen, in den Abgrund des Unlebbaren, des Perversen. Ich schäme mich so sehr, als würde flüssiges Eisen in meinem Inneren ausgegossen werden. Und als würde es an der hohlen Innenwand meines Körpers herunterlaufen. Es zischt. Mein Körper ist an ihrem Körper interessiert. Mein Körper legt sich mit der Gesellschaft an. Schon wieder. Mein Körper ist schuld. Immer daneben begehren.
Volle Verzweiflung.
Mein Verstand biegt sich die Situation zurecht. Die Jungs sehen doch auch ganz gut aus. Sie interessieren mich jetzt grad nicht. Platte, dünne Körper. Kein Einschlag, kein Ausschlag im Hormonsystem. Interessier dich doch bitte! Du musst dich jetzt für die Jungs interessieren! Du musst jetzt bitte normal sein!
Schönreden als Schwerstarbeit.
Nicht so existieren können und deswegen nicht so existieren wollen. Mich nicht anpassen können, aber es müssen.
Bin ich ein Typ, wenn ich Mädchen mag? Behandle ich die jetzt so, wie die Typen uns? Bin ich ein Zwischending, ein Ding? Ein missratenes Monster? Ich weiß nichts mehr. auch nicht, dass ich einige Freundinnen sexy finde und mein Körper jetzt dazu die Schnauze hält. Mein Anpassungsbedarf hat den Körper vernebelt. Der Körper will es sich nicht verscheißen mit mir. Er will nicht alleine sein, nicht isoliert. Ich finde sie heißt, messe mich an ihnen mit dem Blick der Typen und verliere.Der Kopf als Last, der den Rücken in die Knie zwingt und die Hände in die Hosentaschen. Der Kopf drückt und spuckt und lässt sich tragen. Alltag und Normalität stellen sich zwischen mich und mich selbst. Wer davon ist Ich?
Eiskalte Hitze, die Füße ordentlich vor mich hingestellt.
Niemanden Fragen
Warum, warum, warum ziehen die anderen Körper in den Badeanzügen meinen Körper an?
Schuldgeplagte Verwirrung.
Der Verstand findet nichts in der Bravo.
Wenn nichtmal dort etwas steht, muss es schlimm sein mit mir.
Und auch sonst sagt niemand was dazu.
Wer sollte auch was dazu sagen?
Wem sollte ich was sagen?
Wie das sagen?
Was wie sagen?
Wie das sagen, worüber noch niemand was gesagt hat?
Wie über etwas reden, was es nicht gibt? Was nicht sein darf?
Angst, Panik, Schuld, Verwirrung, Absturz,
Was ist das? Was ist normal?
Ich kann niemanden fragen.
Ich kenne niemanden, den ich fragen würde.
Ich kenne niemanden, von dem ich eine Antwort erwarte.
Ich kenne niemanden, von dem ich eine Antwort erwarte, die mir nicht wehtun wird.
Ich kenne nur Menschen, die nicht antworten werden.
Ich kenne nur Menschen, die mir dann wehtun werden. Soviel ist klar.
Niemand spricht mit uns über Sexualität und das, was alles dranhängt. Niemand will von uns etwas wissen. Wir sollen ganz einfach funktionieren.
Mein Leben ist nichtssagend, unsäglich, unsagbar.
Ich bin die Einzige dieser Millionen Körper, die so fühlt. Die Einzige in dieser Menschheitsbrühe, deren Körper verkehrt herum tickt. deren Körper alles falsch macht.
Es gibt keine Frau, die eine andere Frau begehrt. Nicht in der DDR und auch nicht in der BRD, denn in der Bravo steht nichts davon. Mein Körper kommt hier nicht vor. Mein Gefühl ist absurd. Ich komme hier nicht vor.
Denn wenn es so vorgesehen wäre, hätte ich davon schonmal was gehört. Hab ich aber nicht.
Und ich weiß nicht, wie ich existieren soll. Denn ich habe nichts davon gehört, dass es Lesbengruppen gibt, die sich im Underground treffen. Dass eine Lesbengruppe einen Kranz gekauft hat mit der Aufschrift "unseren Schwestern, die im Konzentrationslager von den Nazis ermordet wurden". Dass diese Gruppe mit dem Kranz nach Ravensbrück fuhr. Dass diese Gruppe noch nichtmal in Ravensbrück ankam. Dass die Stasi junge Polizisten auf die Gruppe angesetzt hat. Dass die jungen Polizisten die Lesben verhaftet, geschlagen und sexistisch beschimpft haben. Damit die Opfer des Faschismus nicht entehrt werden. Dass die Polizisten die Lesben abtransportiert haben. Dass die Lesben sich aus Viktor Klemperers Buch LTI vorgelesen haben. Dass die Lesben die Polizisten gefragt haben, wo sie hingefahren werden. Dass ein Polizist geantwortet hat: Ins Arbeitslager. Der Kranz fällt auf die Straße, der Kranz fliegt in den Dreck.
Ich habe auch nichts davon gehört, dass Punks aus Berlin einen Kranz besorgt haben. Dass die Punks den Kranz im Konzentrationslager Sachsenhausen für die Opfer des Faschismus niederlegen wollten. Dass die Punks noch nichtmal in Sachsenhausen ankamen. Dass die Gedenkstätte wird für geschlossen erklärt wurde, dass der Bahnhof abgeriegelt wurde. Dass die Punks den Kranz in Berlin am Mahnmal Unter den Linden abgelegt haben. Dass Polizei und Stasi sagen, die Punks seien negativ-dekadent, pseudopazifistisch, amoralisch, linksradikal, asozial und entartet.
Ich weiß nicht, wie ich existieren soll. Zu Hause im doppelten Nicht-Ort. Wie soll ich mich einrichten? Ich schaffe es nicht, zu zwei Randgruppen gleichzeitig zu gehören. Ich habe Angst, auch noch von den Ausgegrenzten ausgegrenzt zu werden. Ich kann nicht die Ausgestoßene der Ausgestoßenen sein. Keine Kraft mehr für eine weitere Revolution. Keine Kraft für eine Revolution der Revolution.
Ich schäme mich, weil ich schrecklich bin, weil ich scheußlich bin, ich verachte mich.
Dissoziation
Ich habe ein Problem. Grübeln bis mir schwindelig wird. Mein Kopf dreht sich mehrmals um seine eigene Achse. Mein Kopf greift nicht, begreift nicht, deswegen dreht er sich. Der Körper verständigt sich mit Händen und Füßen. Die Drehbewegung schraubt sich nach innen. Ich drehe mich innerlich um mich selbst, ich wringe mich innerlich zusammen. Mir ist kotzübel.
Der einzige Ausweg ist, mich fallen zu lassen.
Und dann falle ich, nach innen in mich hinein, wie in einen Brunnen, in einen Fahrstuhlschacht. Ich falle und weiß nicht, ob ich weich aufkomme, ob ich einen bleibenden Schaden nehme oder ob ich überhaupt lebendig unten ankomme.
Es wird dunkel um mich, in mir.
Ich finde mich wieder, finde mich in eine Situation geworfen,
auf mich selbst geworfen,
in mich geworfen,
in das finstere Loch meiner Selbst geworfen.
Genug gebadet in der Menschheitsbrühe! Mein Körper tritt in die Pedalen. Nach Hause! Mein Verstand rennt vorneweg und klammert sich an die Bravo: "Wie kann ich ihn oral befriedigen, auch wenn ich sein Geschlechtsteil hässlich finde?"
Der Körper klappt sich in die Fläche und wird zum Fluchtpunkt. Der Verstand flieht vor dem Körperapparat.
Genug gebadet in der Menschheitsbrühe. Ich fahre nach Hause mit dem Fahrrad.
Wo sind die Menschen, die schon vor mir diesen Weg gegangen sind?
Unter der Knute der Außenwirkung
Punkt für Punkt den Radius erweitern. Punkt für Punkt für Punkt in die Fläche gehen. Querverbindungen entdecken. Die Fläche sehen, die Fläche erkunden.
Zeitgefühl, ewig
Alles ist jetzt. Ewig leben. Alle Veränderungen selbst herbeiführen. Nicht so wie die Alten. Nicht so sein wie die Alten. Jetzt leben. Glauben, ewig zu leben. Glauben, dass es ewig so weiter geht. Wissen, dass sich etwas ändern wird. Nicht wissen wollen, wie es dann sein wird. no future und scheißegal und so.
Ringsrum verändert sich viel. Die Zeit rennt voran und ich bleibe Teenie, ich bleibe im Moment, ich bleibe jenseits der Zeit, weil ich nichts machen kann, weil ich immer noch nicht die Macht über mich habe, immer noch nicht über mich selbst entscheiden kann, immer noch nicht abgehauen bin von zu Hause.
Heute schon an morgen denken. Heute nicht denken. Als könnte man den Tag vorhersagen.
Dafür viel Zeit haben für Abgrenzung und Selbsthass. Ich lehne ab und werde abgelehnt.
Ich lehne mich dagegen. Ich weise ab, um Stärke zu simulieren, Unabhängigkeit. Ablehnung als Machtspiel. Ich lehne Machtspiele ab. Das mit dicken Schuhen wegkicken, wegtreten. Distanz schaffen, abweisen, hinweisen, Raum nehmen. Abweisen, um anzuziehen. Angezogen sein und abgewiesen werden.
Mein Ort ist der Nicht-Ort, mein Zuhause ist kein Zuhause. Nirgendwo. Ich merke, dass ich existiere, wenn ich nicht sein darf, wenn sie mich nicht wollen. Dann merke ich, dass ich da bin.
Du bist so negativ, lach doch mal, sagen alle möglichen Leute.
No Mutti
Nicht so werden wollen, wie die älteren Frauen sind. Niemals!
niemals diese Frisuren wie aufgeruppte Sofas
niemals diese selbstgestrickten weißen Pullover
niemals diese Klamotten, Röcke, Rüschen, Röschen,
niemals diese Haltung, diese Hände, diese Arme nach vorn getragen, immer bereit, etwas aufzuräumen und den Abwasch zu machen. Niemals!
niemals für den Staat Kinder gebären, für den Erhalt der Art und aufziehen
niemals fett Leistung bringen und trotzdem zweite Reihe
niemals unterbezahlt arbeiten
niemals unterschätzt werden
niemals dem Alten die Pantoffeln an den Fernseher tragen
Das alles ist muttimäßig!
Mein weibliches "no future" heißt "no Mutti"!
Du wirst das aushalten, hat die Mutter gesagt zu diesem Zustand, der nicht aushaltbar ist. Die Frauen wollen mich zu einer Frau machen.
Ich soll eine Frau werden.
Frauen haben Schürzen an und machen die ganze Hausarbeit, gehen arbeiten und bekommen Kinder, kennen es nicht anders.
Frauen sind schön oder dick, alt oder jung, meistens zu dick, zu alt, zu schön oder zu jung.
Sie sind immer Frauen, immer die, die nichts zu sagen haben.
Es geht nicht darum was sie wollen. Es geht nicht um ihre Interessen.
Darum geht's nicht.
Denn Frauen wollen nichts.
Frauen machen ordentlich ihre Arbeit,
Frauen machen noch ordentlicher ihre Arbeit als Männer.
Frauen sind Vorbilder und brechen nie zusammen.
Frauen brechen zusammen und sind schuld dran.
Frauen haben keine Hobbies.
Frauen machen keine interessante Musik.
Frauen machen automatisch immer sauber und waschen ab.
Frauen halten alles rein.
Frauen sind schmutzig.
Frauen spielen Nebenrollen.
Außer, ein Mann sagt, eine Frau soll eine Hauptrolle spielen, und er sagt, wie sie die spielen soll. Frauen sind im Hintergrund.
Frauen unterstützen Männer.
Frauen raspeln Süßholz, Frauen schmieren Honig ums Maul.
Frauen opfern sich für die Interessen der Männer, die diese als gemeinsame ausgeben.
Frauen kichern.
Frauen haben keine Bedeutung.
Frauen müssen gebären.
Frauen müssen immer gute Laune haben, wenn sie angesprochen werden, und auch, wenn sie nicht angesprochen werden, wenn sie nur angeguckt werden.
Frauen gleichen die schlechte Laune ihrer Umgebung aus.
Frauen sind klein und niedlich oder dick und alt.
Frauen sind immer erstmal Körper.
Frausein ist bitter.
Frausein tut weh.
Frauen wird auch mal eine runtergehauen.
Frausein ist Muttisein.
Frausein ist zum Kotzen.
Frausein ist lächerlich, dämlich.
Frauen wehren sich nicht.
Frauen werden entwertet.
Frauen entwerten sich gegenseitig.
Mein weibliches "no future" heißt "no Mutti"!
Ich bin nicht klein, nicht niedlich, nicht dick, nicht alt.
Ich trage nicht meine Arme vor mir her in ständiger Hilfsbereitschaft.
Was ist nun mein future?
Ich bin keine Frau, ich bin Punk.
Aber die Punker sprechen mich immer wieder als Frau an!
Die Punkerin ist irgendwie dabei und nie ganz weg.
Die Punkerin stellt sich daneben.
Die Punkerin stylt sich und stellt sich daneben.
Die Punkerin stylt sich, stellt sich daneben und wartet auf Anerkennung.
Die Kumpelebene funktioniert.
Die Kumpelebene funktioniert, wenn die Punkerinnen selbstbewusst ausrasten, saufen, prügeln, rotzen und pogen wie die Typen. Ich poge, du pogst, er pogt, sie pogt – wirklich sie? Sie pogt eigentlich meistens nicht und steht beim Konzert am Rand. Pogo ist nicht schön sein müssen, nicht lieblich, nicht anmutig, nicht sanft, nicht harmonisch, nicht koordiniert, sich nicht abstimmen, sich nicht aufeinander einstimmen, nur vorbei und gegen und Spaß dabei.
Im Krassheitswettbewerb ganz vorn dabei.
Richtig dabei sein wollen.
Mit dem Auto zu Konzerten mitgenommen werden.
Bescheid kriegen, Bescheid wissen.
Sich mit Musik auskennen. Musik tauschen.
Zur Musik ausrasten.
Die Kumpelebene funktioniert, wenn ich im Konzert beim pogen hinfalle.
Ich komme gar nicht erst auf dem Boden auf, weil mich Leute ringsrum auffangen.
Die Punkerin stylt sich, stellt sich daneben und wartet auf Anerkennung.
Das Begehren geht aber andere Wege. Die Enttäuschung, wenn die Typen dem Mädchen mit den weißen Hosen hinterherpfeifen, das Rouge aufgelegt hat.
Ein Körper wie aus der Bravo ausgeschnitten. Die da. Die Konkurrentin.
Die Enttäuschung, nicht gemeint zu sein, nicht interessant.
Zu krass, zu hart, unweiblich.
Wenn ich den Wettbewerb um die krasseste Mutprobe gewinne, verliere ich das Begehren der Typen.
Im Krassheitswettbewerb gewonnen und damit automatisch im Schönheitswettbewerb durchgefallen. Oder, in welchem Wettbewerb?
Nicht mehr nur Punkt sein wollen, Fläche, Körper, Kollektiv.
Als ganze Punkerin Körper im Kollektiv sein wollen, nicht nur als Kumpel im Kumpelkollektiv.
"Wenn ich deine Frisur sehe, kriege ich perverse Gedanken", sagt der coole Typ aus der Szene.
Dem Begehren hinterherrennen.
Sich jetzt freiwillig zur Frau machen, nachdem ich Punk geworden bin?
Sich zur Frau machen lassen.
Die Bravo wieder rausholen und die ganzen Mädchentechniken anwenden.
Den Typen von schräg unten anklimpern, absichtlich-unabsichtlich etwas tun, niedlich stolpern, dick auftragen, sich dünn machen, sich eine junge Frau ins Gesicht schmieren und nicht wissen, wer da grad malt.
Die Mädchentechniken aber so anwenden, dass sie nicht aussehen wie aus der Bravo.
Die Mädchentechniken auf Punk übersetzen.
Den rasierklingenscharfen Grat bewandern zwischen kaputten Strumpfhosen und weißer Hose, zwischen alter Lederjacke und weißem selbstgestrickten Pullover, zwischen Iro und Kaltwelle, zwischen zerrissen und sexy.
Der Aufteilung in Kumpel und Begehrte hinterherhetzen. Ständig auf dem Schirm haben müssen, wen ich womit beeindrucken will. Ständig das Verhalten und das Aussehen danach regeln.
Zwischen Kumpel und sexy hin- und herswitchen.
Zwischen Kumpel und sexy hin- und herswitchen müssen.
Zwischen Kumpel und sexy zur richtigen Zeit hin- und herswitchen müssen.
Sonst ist man im schlimmsten Fall die Schlampe oder bescheuert.
Das Mädchen mit den weißen Hosen stellt sich daneben.
Das Mädchen mit den weißen Hosen stylt sich ein bisschen punkiger und stellt sich daneben.
Das Mädchen mit den weißen Hosen stylt sich ein bisschen punkiger, stellt sich daneben und wartet auf Anerkennung.
Sie hat im Schönheitswettbewerb gewonnen und ist dabei automatisch im Krassheitswettbewerb durchgefallen. Oder, in welchem Wettbewerb?
Das Begehren genießen. Aber als ganze Person Körper im Kollektiv sein wollen, nicht nur als Sexobjekt des Kumpelkollektivs. Es schwer haben, Respekt zu bekommen, wenn man viel Sex hat. Oder mit vielen Sex hat. Auch nacheinander, nicht parallel. Oder mit dem "Falschen":
"Weil du jetzt mit dem zusammen bist, sinkst du in meiner Achtung", sagt der schicke Typ mit dem Iro zu der neuen "Freundin von 'dem'". Sie ist nicht mehr verfügbar.
Manchmal kennt man die Namen von den Mädchen nicht mit den ehemals weißen Hosen, jetzt schwarzgefärbt.
Sie sind einfach die Freundin von irgendwem.
Mit einem Typen weiter unten in der Hierarchie zusammen sein heißt, keine Rolle zu spielen. Keinen Namen zu haben.
Als Mädchen ist es schwer, richtig dabeizusein.
Das Dabeisein ist kein sicheres Dabeisein.
Oder das Dabeisein wird nur mit dem richtigen Typen ein richtiges, sicheres Dabeisein.
Wie vor 100 Jahren ist die wichtigste Leistung, eine gute Partie zu machen.
Wie vor 100 Jahren: einen abzukriegen, der in der Hierarchie ganz oben steht.
Wie vor 100 Jahren: die Funktion des Typen sein, den sie abgekriegt hat.
Ist sie mit dem Oberpunk zusammen, fällt auf sein Glanz auf sie.
Und alle kennen ihren Namen.
Trennen sie sich, ist sie weg vom Fenster.
Ihre Position in der Hierarchie hängt von der Position ihres Typen ab.
Meine Position in der Hierarchie hängt von der Position meines Typen ab.
Die ohne Typ arbeitetet jeden Tag vergeblich an ihrer Position.
Die Welt hat ihre Ordnung. Die Punkszene hat ihre Ordnung.
Was könnten die Freundschaften zwischen Punkerinnen dagegen ausrichten?
Meine Mutter hat gesagt: "So wie du aussiehst, wirst du nie einen abkriegen."
Keinen abkriegen ist uncool. Auch unter den Kids. Auch in der Punkszene.
Ich habe einen abgekriegt, es war nicht schwer.
Bzw.: Ich habe mir einen Typen zugelegt.
Er ist Säufer, Macker, Loser, Spinner, Trottel, gewalttätig, dumm, eingebildet.
Er macht nicht, was ich will.
Ich habe keine Vorstellung, was ich will.
Ich habe keine Vorstellung, was eine Beziehung ist.
Ich habe keine Vorstellung, was mein Körper für eine Rolle darin spielen könnte.
Das habe ich nie gelernt.
Mein Köper hat nie eine Rolle gespielt.
Mein Körper spielt spielt nur Rollen.
Z.B. die aus der Bravo: "Wie kann ich ihn oral befriedigen, auch wenn ich sein Geschlechtsteil hässlich finde?"
Ich weiß nichts, ich will nichts.
Ich hab eine unbestimmte Sehnsucht nach Nähe und Geborgenheit.
"Weil du jetzt mit dem zusammen bist, sinkst du in meiner Achtung", sagt der schicke Typ mit dem Iro zu mir. Später wird er als Punklegende bezeichnet.
Härte
Ich bin hart gegen mich.
Härte ist die Zärtlichkeit der Holzklötze.
Härte ist die die Nähe der Betonherzen.
Härte ist die Bindung der Gewaltsamen.
Härte gegen mich selbst halte ich für Mut.
Härte ist die neue Liebe.
Mehr habe ich momentan für mich nicht übrig.
Ich mache mich immun gegen Angriffe, gegen Normierung gegen Verletzung, bewaffne mich mit Worten, mit harten Worten mit agressiven Worten, panzere mich mit Frechheit, rüste auf mit Großkotzigkeit und erkämpfe mir so Respekt von denen, die mich durch die Norm durchfallen lassen haben, die mich aussortiert haben, die meine Stufe in der Hierachie auf ganz unten festgelegt haben, die mich mit Gewalt gemessen haben und am Grad meines Widerstands den Respekt ablesen, den sie mir zu geben bereit sind.
Ermächtigung und Erniedrigung
Die Typen haben das Sagen. Punk ist ihr Ding. Die Mädchen haben kein Ding. Mädchen geben Macht ab. Die Mädchen reden viel, wenn der Tag lang ist. Die wenigen Mädchen hängen nur so dran an der Szene, haben auch eher keine Instrumente, keine Technik, keine Band. Die wenigen Punkerinnen spielen eher nicht in den Ostpunkbands, organisieren eher nicht die Aktivitäten in der Szene.
Die wenigen, die es doch tun, sind umso wichtiger. Ich warte darauf, dass mir die Sängerin aus dem Herzen spricht. Sie spielt Bass, sie bekommt Respekt, sie ist ganz klar eine absolute Ausnahme. Tiefe Stimme, rote Haare, unerreichbar. Sie sitzt neben mir und wendet sich ab. Sie weiß nicht, wie sehr sie gebraucht wird.
Die Punkszene ist manchmal wie ein Karussell.
Mädchen steigen schnell auf und schnell wieder ab.
Mädchen sind schnell da und manchmal schnell wieder weg.
Die, die bleiben, setzten sich hart durch. Verschaffen sich Respekt. Oder leben ohne Respekt. Ob mit oder ohne Typ. Und stecken da viel Energie rein. Denen ist die Sache wichtig. Das Lebensgefühl. Der Trotz. Das Experiment. Der Wald- und Wiesenanarchismus. Tanzen auf dem rasierklingenscharfen Grat zwischen Armeeklamotten und tiefem Ausschnitt. Zwischen dicken Arbeitsschuhen und sexy Gang. Zwischen Lippenstift und rotzen.
Fühlen sich manche Punkerinnen respektiert in der Szene? Als ganzer Mensch und als Frau? Gibt es Freundschaften die länger halten als bis zur nächsten Konkurrenzsituation um einen wichtigen Typen?
Wie soll ich darauf kommen, dass es auch anders geht? Ich weiß nicht, dass tausende Kilometer entfernt in Olympia in den USA die Riot Grrrls ihr Ding machen. Es gibt kein Internet, kein Handy, keine Szenezeitschriften und meistens auch kein Telefon, dafür aber den eisenern Vorhang.
Ich weiß nicht, dass sie in Olympia in den USA eine Punkerinnenszene haben. Wo die Frauen die Bands gründen. Mädchensolidarität. Mit eigenen Anerkennungsstrukturen. Und mit eigenen Ausschlussmechanismen.
Wo sie ihren Status nicht von der Anerkennung von Typen abhängig machen. Typen gibts dort als "Freund von irgendeiner", so wie am Anfang Kurt Kobain.
Im Fernsehen sind die Riot Grrrls 1989 auch nicht zu sehen, in der Buchhandlung gibts keine Bücher von Kathy Acker.
Dort könnte ich vielleicht Worte finden. Worte, mit denen ich mir vielleicht ein bisschen mein Leben erklären kann, Worte zum Verstehen, Worte für Forderungen, Worte für Kritik, Worte für meinen Scheiß-Kampf um Würde. Punk ist nicht bedingungslose Akzeptanz, Punk ist kein herrschaftsfreier Raum.
Punk ist Ermächtigung und Erniedrigung gleichzeitig.
Eine Linie durch den Sumpf ziehen
Das Kollektiv
Ich bin ein einzelner Punkt im Dorf. Ich bin ein einzelner Punk im Dorf. Ich fahre mit dem Fahrrad durch das Feld. Kilometerweit.
Der Punkt zieht eine Linie durch den Sumpf. Der Punkt vertieft sich, sinkt hin zu Leuten, die am Sumpf wohnen oder im Dorf des Ziegenbocks. Der Punkt pflügt die Landschaft mit seiner Frisur.
Grenzsteine mit Schnörkelschrift. An der Grenze zwischen dem Bezirk Dresden und dem Bezirk Cottbus, früher die Grenze in Kriegen hin- und herverschoben, Verschiebemasse, die Herrschaft wechselt, die Herrschaft ist egal. Ein Wald, aus dem nachts Töne kommen, Kreischen, eine Kreissäge, man weiß es nicht so genau. Auf dem Weg zur Grenze, zur Linie in sich selbst, zur Angstgrenze, mit einem Gefängnis als Kopf, auf dem Weg zu Grenzerfahrungen.
Die Flüsse sind rostrot, das Wasser voll Eisen. Die Menschen, die am Sumpf wohnten, haben den Sumpf ausgetrocknet, haben Teiche, Schleusen und Gräben angelegt. Die Menschen, die danach kamen, dachten, das hätte der Teufel gemacht.
Eine Landschaft aus Gräben und Teichen und dazwischen ein paar Stege, Straßen, ein paar Felder, Wälder. In den Teichen ertranken früher feindliche Armeen. In den Teichen sind Karpfen eingesperrt. Einmal im Jahr wird ihnen das Wasser weggenommen, das fließt durch die Schleusen in die Flüsse. Und dann werden sie lautlos umgebracht und gefressen von uns, von den Leuten, die am Sumpf wohnen.
Im Sumpf haben die Leute früher Raseneisenerz gesammelt und in kleinen Lehmöfen verhüttet. Jetzt steht ein Stahlwerk im ehemaligen Sumpf, das rumpelt und kracht über das Feld,
Das Stahlwerk, das übergroße Werk, das Monster aus Metall und Beton, Kinder dürfen nicht rein, gestählt und gewetzt, gefeilt und gedreht, gegossen und gesägt, flüssiges Eisen, dichter Personennahverkehr, Schichtarbeit, harte Arbeit in Holzschuhen, die schützen die Füße ein wenig besser, wenn das Eisen mal ausläuft, Eisen in Eisendimensionen, Schiffsschrauben so groß wie eine Menschenmenge, grobe Arbeit, harte Gemüter, harte Ansichten, harte Sitten, harter Alkoholsumpf.
Dazwischen sozialistischer Realismus, Bitterfelder Weg, ein bitterer Weg, eine bittere Realität.
Ein Künstler ist im Stahlwerk als Künstler angestellt. Doch das ist nicht der Punkt.
Im Betrieb, im Werk, im Kollektiv. Metall feilen, Metall drehen, Metall bohren, und wieder Metall feilen.
Im Kollektiv der ekligen oder bescheuerten Sprüche.
An Maschinen stehen in Arbeitsklamotten, ausgewaschenes Dunkelblau, klobige dreckige Schuhe. Rote Fahnen, rote Wandzeitungen, überall Dreck und Arbeit.
Im Kollektiv der seltsamen Bedürfnisse. Arbeitsschutz.
Die Arbeiterklasse und ihre Vorsitzenden.
Viele Körperapparate organisieren sich zu einem Kollektivapparat. Viele Kollektivapparate organisieren sich zu einem Betriebsapparat.
Und dann wird produziert.
Alle Frauen stehen ihren Mann.
Arbeit als höchstes Gut.
Wenn nicht genug Rohstoffe da sind, wird rumgesessen. Grau, öde, langweilig,
Aber nicht einfach nur harmlos langweilig, sondern repressiv langweilig.
Das Kollektiv hält zusammen durch Tratsch, durch Abhängigkeiten, durch kleine Gemeinheiten. Gefangen im Zwangskollektiv. Das Andere wegdiskutiert, das Andere bekämpft. Normiert.
Das Kollektiv weiß genau, wie eine Frau, wie ein Mädchen zu sein hat.
Der Körperapparat ist falsch.
Sie verachten mich, ich bin Punk.
Das Denken ist falsch.
Ich bin was Besseres, ich bin Punk.
Das Andere kann eigentlich nicht rausgemobbt werden, denn wir sind ja ein Kollektiv.
Die Arbeiterklasse und ihr komisches Klassenbewusstsein.
Das Andere wird trotzdem gemobbt.
Körperliche Arbeit als Strafe, dreckig, abschreckend.
Mein Körperapparat soll sich in den großen Apparat eingliedern, sagen die Lehrer, sagt das Kollektiv, das keins ist.
Frauen machen die schlecht bezahlte Arbeit, Arbeiterin, Sachbearbeiterin, mit Dauerwelle.
Du brauchst einen Mann, der gut verdient, sagt das Kollektiv. Ich will nicht.
Ohne Mann hast du vielleicht genug zu essen und eine Wohnung, aber keinen Kühlschrank, keine Waschmaschine, keine Schleuder, keinen Fernseher, keine Dauerwelle. Ich will trotzdem nicht. Vor allem keine Dauerwelle wie ein aufgerupptes Sofa
Dein Denken ist falsch. Dein Dasein ist falsch, denkt das Kollektiv.
Ich hab Angst vor der Meinung des Kollektivs, immer.
Das Kollektiv sagt:"Sie hat Schwierigkeiten, sich ins Kollektiv einzugliedern." Als wäre ich selbst schuld, wenn ich gemobbt werde. Als wäre es mein Versagen, wenn ich gemobbt werde. Das Kollektiv denkt, es hat immer Recht.
Angst davor, dass das Kollektiv mich als Parasit sieht, als Kulturagent des Kapitalismus, als Auswurf der Gesellschaft, als Abschaum, als Schlampe. Wie das aussieht! Wenn das die Leute sehen! Was sollen denn die Leute von dir denken?
Ja, was sollen die Leute von mir denken?
Die Angst vor dem Assiparagraph.
Wer nicht arbeiten geht, ist schlecht. Wer nicht arbeiten geht, und dann vielleicht mal ein Brötchen klaut, geht in den Knast. Der wird das Kind weggenommen. Auf die zeigt das Kollektiv mit den Fingern und weiß alles besser. Worte machen niedrig, weisen die unterste Stufe in der Hierarchie zu.
Mein Körperapparat muss funktionieren.
Mein Körperapparat ist falsch. Das Kollektiv ist mein Gefängnis.
Ich hasse diese Arbeit.
Ich hasse diese Ausbeutung zum Wohle des Volkes.
Diesen Staatskapitalismus.
Die Künstlerin
Weg von hier. (Nach Hause.)
Der Punkt rast mit dem Fahrrad über das bittere Feld. Auf dem Feldweg wachsen Brombeerruten aus dem Stahlwerk heraus, werden zu selten verschnitten.
Und jetzt ein Platten am Fahrrad. Eine Vollbremsung, wie Steine in den Weg gelegt, wie ein Knüppel zwischen die Beine geschmissen, steckenbleiben im Feld. Das ist bitter. Entweder Luftpumpe dabei oder Flickzeug dabei aber nie beides.
Irgendwas ist immer, was das Vorwärts vereitelt. Die Linie ist unterbrochen, die der Punkt durch das Feld zieht mit seiner Frisur, durch das bittere Feld des Alltags, der Arbeit, des Arbeitsalltags.
Jedoch: Kunstzirkel am Ende des bitteren Felds bei der Frau des Künstlers, der im Werk angestellt ist, um Realität zu produzieren. Die Frau des Künstlers ist auch Künstlerin, aber das wissen die wenigsten. Die Künstlerin ist nicht als Künstlerin angestellt sondern als Zirkelleiterin. Der lesende Arbeiter soll im Kunstzirkel malen lernen, soll Kultur produzieren.
Die Künstlerin kümmert sich, ihr Werk ist die lebende Arbeiterkultur: der schreibende Arbeiter, der zeichnende Arbeiter, der töpfernde Arbeiter. Die strickende Arbeiterin, die nähende Arbeiterin, die putzende Arbeiterin ist nicht im Kunstzirkel. Keine Zeit für töpfern, zeichnen, schreiben. Der organische Intellektuelle und die organische Putzfrau. Sozialistischer Realismus und sozialistische Realität. Ich stricke nicht, ich putze nicht, ich bin Punk. Ich nähe mir eine Hose mit Zebrastreifen, ich nähe einen Pullover aus Scheuerlappen.
Ich verehre die Frau des Künstlers. Sie hat kurze Haare, keine Dauerwelle wie ein aufgerupptes Sofa. Ihre Frisur ist mir nah. Aber auf die Frisur kommt es ihr gar nicht an.
Die Frau des Künstlers produziert eine andere Realität als der Künstler.
Sie findet gut, was ich male. Ich hab nur mal schnell den Farbkasten ausprobiert. Ich hab nur Farbreste auf dem Papier verschmiert. Nur deswegen kreativ sein, weil ich nicht weiß, wohin mit mir. Ich habe nur ein Comic gezeichnet mit einer einzigen Sprechblase: No Future.
Ich hab nichts Sinnvolles gemacht.
Nichts, was nützt.
Nichts, womit irgend jemand angeben kann.
Nichts, was man irgendwo hinhängen kann.
Ich habe keine Realität dargestellt, nur ihre Sinnlosigkeit.
Ich habe keine Realität dargestellt, nur Sehnsüchte.
Ich bin zu keinem Realismus fähig.
Meine Realität existiert ja gar nicht offiziell. Auch nicht inoffiziell.
Meine Kunst ist, keine Realität zu haben und trotzdem zu existieren.
Ich habe keine Realität dargestellt, wie sie das Kollektiv mit seinen Augen sieht.
Was meine Augen dabei sehen, will das Kollektiv nicht wissen.
Nur die Künstlerin. Die Künstlerin wirft mir ihre Herzlichkeit zu, unterfüttert mich mit Wertschätzung, sieht mit ihren dunklen Augen und kurzen Haaren, wie ich bin, sieht genau hin. Sie sieht mich. Und plötzlich bin ich da. Mein Körperapparat lebt. Mein Körperapparat nimmt sich wahr.
Die Künstlerin leiht mir Worte für meine Sprachlosigkeit. Ein Spalt in der Realität, die so festgebürgert scheint. Ein Spalt des Verstehens. Aufatmen. Die Künstlerin stellt die Nützlichkeits-Ordnung in Frage, die Hierarchie. Die Künstlerin hebt mein Kopf-Gefängnis aus den Angeln. Die Künstlerin macht die Tür auf und mein Körper tritt aus dem Apparat.
Aufatmen und ... Angst. Angst davor, gesehen zu werden. Angst davor, dass mich jemand sieht und nicht nur angafft. Angst davor, tatsächlich wahrgenommen zu werden. Angst davor, wahr zu sein. Angst vor meinem Wert. Angst davor, verstanden zu werden. Angst davor, endlich zu bekommen, was ich mir gewünscht habe. Angst davor, es vielleicht nicht wert zu sein. Angst davor, dass mein Körperapparat reagiert. Angst, vor dem warmen Blick der Künstlerin zu schmelzen. Angst, zu bekommen, was ich brauche.
Ich glaube der Frau des Künstlers nicht. Was für eine Bodenlosigkeit, meine Nutzlosigkeit zu schätzen, meinen Wert zu behaupten!
Lieber gleich keinen Wert haben, als immer die Angst davor, den eigenen Wert zu verlieren.
Ich bin gegen alles. Ich bin gegen mich, wenn jemand für mich ist. Ich bin gegen den, der für mich ist.
Ich glaube der Frau des Künstlers nicht, dass ich so sein darf, wie ich bin.
Lieber gleich Nicht-Sein, als die immer Angst davor, nicht sein zu dürfen.
Wer den Punkt mag und die Linie, die er zieht, muss bescheuert sein. Denke ich. Wer den Punkt mag und die Linie ist Künstlerin. Die Künstlerin ist Synthese. Die Künstlerin träumt von einem Synthesizer.
Wende
Grenze offen
Ich gehe auf der Straße, ich gehe an einer Mauer lang.
Es ist eng hier, ich stoße mit dem Kopf an die Betondecke trotz des offenen Himmels, der Druck nimmt zu, mein Kopf knackt, es ist eng, immer enger.
Eine revolutionäre Situation (hab ich in der Schule gelernt): Die Unterdrückten wollen nicht so weiter wie bisher, die Herrschenden können nicht so weiter wie bisher. Marxismus für Kinder. Es ist meine Revolution. Ich will nicht so weiter wie bisher, sagt meine Frisur. Meine Haare fühlen sich unterdrückt. Sie wollen aufstehen, nach oben stehen. Ich komme mit der nicht klar, sagt mein Vater und meint meine Lederjacke mit den Punkverzierungen dran. Er versteckt sie auf dem Dachboden.
"Die Grenze ist offen", sagt Egon Krenz, der Vorsitzende der ganzen Vorsitzenden von ganz oben. Die Grenze in meinem Kopf, die Angstgrenze, die Angst vor Grenzüberschreitung, die Warnung vor der Ausgrenzung bleibt geschlossen.
Es ist warm draußen, Sommer, Spätsommer, Herbst. Wald, Wiesen und Felder reifen, senden Punkte aus, Dämpfe, Striche und Linien. Ich springe auf dem Bett herum, hoch und runter. Ich schreie vor Spannung und Entspannung, ich schreie der Revolution entgegen: Juhu, die ganzen Vorsitzenden können nicht mehr so weiter wie bisher! Ja, da kommt die Revolution und ich hatte Recht, so dermaßen Recht, dass alles Scheiße ist, die Worte hohl, die Aussagen widersprüchlich, der Allltag langweilig, die Strafen unverhältnismäßig, das Eingesperrtsein tödlich.
Es reißt auf, das Land öffnet sich, ein Spalt in der Mauer, in der Politik, im Feld, im Wald, von dem die Blätter fallen. Und immer noch wünschen mir diverse Mitmenschen, dass ich vergast werde. Trotzdem Euphorie, überall. Endlich passiert mal was Neues.
Konkrete Veränderungen
Ich gehe an der Mauer lang. Dahinter rumpelt das Stahlwerk.
Der Raum dehnt sich. Ich selbst muss nicht raus aus der DDR, mich nicht rauskämpfen, wie ein Kaiserschnitt, mich nicht aus der DDR rausoperieren. Die Älteren sind freudig verwirrt.
Der Raum dehnt sich. Raster weiten sich, Rasterpunkte verschieben sich. Gitternetzlinien entfernen sich von mir, heben ab.
Der ABV heißt jetzt offiziell Bulle, so, wie er die ganze Zeit schon hieß. Der Bulle sagt was zu den Punks. Aber er hat nichts mehr zu sagen. Wir sagen es ihm. Er sieht auf seine Füße. Er sagt nichts. Wir fühlen sie ganz stark, die Anarchie, ganz kurz.
Kapitalismus ist keine Alternative, aber plötzlich ist er da und geht nicht mehr weg. Da kommt das harte Geld, die D-Mark. DDR-Autos werden zerfahren, verschrottet, an Punks verschenkt. Das ist die Freiheit, Auto fahren, ein Auto kaputtfahren, dann ein neues Auto fahren, noch ein Auto kaputtfahren. Eine einmalige historische Situation, eine revolutionäre Situation. Ich fahre, zu jung für den Führerschein. Der Bulle, egal. Mein Fahrrad hängt hinten aus dem Kofferraum raus.
Vietnamesen verkaufen Zigaretten, ich verstehe nicht, warum. Jetzt leben Russlanddeutsche in den Heimen, in denen vorher die Vietnamesen gelebt haben. Aber wo leben die Vietnamesen? Die jugendlichen Russlanddeutschen sprechen russisch, wir nicht wirklich, obwohl wir das jahrelang in der Schule gelernt haben. Die russischen Frisuren gefallen uns nicht. Unsere Frisuren gefallen ihnen nicht. Ich verstehe nicht warum.
Ich gehe an der Mauer lang. Dahinter rumpelt das Stahlwerk. Das harte Geld ist da.
Die Betriebe mit ihrer harten Arbeit sind nun unbezahlbar. Wegen der harten D-Mark. Die Kollektive sind unbezahlbar. Die Ansichten werden härter. Die Betriebe zerbrechen, die Kollektive zerbrechen. Die Älteren sehen auf ihre Füße.
Ich gehe an der Mauer lang. Dahinter eine andere Arbeit im Stahlwerk. Das harte Geld zerrumpelt das Werk.
Die Mauer wird abgerissen, plötzlich. Hinter der Mauer ist nichts, eine platte Fläche. Der Raum dehnt sich. Wo ist das Stahlwerk? Wo ist das Monster aus Metall und Beton? Wo ist das Kollektiv?
Vom Realsozialismus bleibt nur die Realität. Vom dichten Personennahverkehr bleiben nur die Personen. Von der Schichtarbeit bleiben nur die Schlafprobleme. Von der harten Arbeit bleiben nur die harten Gemüter, die harten Ansichten, die harten Sitten, der Alkoholsumpf. Vom Bitterfelder Weg bleibt nur das bittere Feld, die bittere Realität.
Die Älteren sehen auf ihre Füße. Die Älteren steigen in ihre Second-Hand-Westautos und fahren in den Westen. Was bleibt, ist meine Frisur.
Vom Staatskapitalismus bleibt nur der Kapitalismus.
Der Raum dehnt sich. Plötzlich scheint Platz zu sein auf der platten Fläche, für kommende Generationen und ihre Ideen, für uns. Raster weiten sich, Rasterpunkte verschieben sich. Es gibt freie Wahlen. Aber ich darf nicht wählen, zu jung. Noch nicht mal, welche Diebe mich bestehlen. Großartige neue Möglichkeiten schauen mich mit großen Augen an. Keine Mitbestimmung, keine Öffentlichkeit, keine Werkzeuge, keine Handlungsoptionen, keine Macht, keine Selbstbestimmung. Wählen darf ich aus dem Angebot der neuen Supermärkte. Das Angebot übertrifft meine Frisur an Krassheit. Ich kann das Angebot nicht bezahlen. Könnte ich es bezahlen, wüsste ich, das Angebot ist hohl. Könnte ich es bezahlen, würde ich mir eine Existenz zusammenkaufen. Sicherheit suchen in der Gleichung mit nur Unbekannten. Ich vertraue keinem Angebot, niemandem.
Die Verhältnisse werden neu ausgewürfelt. Die Schere geht auf, Gleichheit zerschnitten. Wer vorher arm und reich war, ist jetzt bald brutal arm und brutal reich. Die Schere schneidet den Platz zurecht, weist Plätze zu. Schneidet Möglichkeiten ab, die ich angeblich habe. Ich soll jetzt die Möglichkeiten nutzen, die meine Eltern nicht hatten.
Ich soll mich verändern
Der Raum dehnt sich. Ich muss plötzlich groß sein, größer als vorher. Ich muss plötzlich frei sein, freier als vorher. Obwohl zu Hause alles genauso eng ist wie voher. Obwohl mich mein Vater genauso unterdrückt wie vorher. Er ist keine Autorität, nur autoritär. Trotzdem muss ich jetzt ein freier demokratischer Mensch sein. Ich muss meine Möglichkeiten nutzen. Ich soll mich freiwillig und ganz von selbst in die richtige Richtung entwickeln.
Ich soll wollen.
Ich muss dürfen.
Ich darf sollen.
Sei so! Sei anders! Sei anders, als du bist! Sei frei, aber nur in diesen und jenen Grenzen! Sei spontan!
Mach dies und mach gleichzeitig das Gegenteil!
Bleib da, wo du bist! Geh weg!
Keine Zeit für Reifungsprozesse. Keine Zeit für Versagen.
Sei kreativ, aber es muss was Nützliches dabei herauskommen!
Sei frei, aber nur in den Grenzen, die dir vorgegeben sind!
Ich soll gut sein. Und nicht darüber nachdenken, was gut bedeutet und wer bestimmt, was gut ist. Pseudoentwicklung, keine Entwicklung sondern Verwicklung, Einwicklung, Manipulation.
Sei gut! Immer. Das ist meine Pflicht. Genauso wie früher, bloß anders. Vor den Wagen gespannt werden und vor Wut nicht anders können, als ihn zu ziehen.
Wiedervereinigung
Die Revolution frisst ihre Kinder, schon wieder. Jeder Revolutionär wird zum Versprecher. Die Kinder fressen die Revolution und jubeln der Birne zu. Die Birne mischt sich in die inneren Angelegenheiten ein, hält eine Rede in der großen Stadt. Noch existiert der Staat. Die Birne schafft Tatsachen, indem sie Versprechen verbricht. Vom Volk der DDR bleibt nur das Volk. Es bleibt das Autoritäre, es bleibt der Nationalismus.
Was bleibt, sind ein paar Nazis ohne Frisur. Was bleibt, ist, dass meine Frisur stört. Sie stört jetzt nicht mehr das sozialistische Zusammenleben. Meine Frisur stört jetzt nur noch die Nazis. Die vermehren sich, immer mehr Punks laufen über zu denen.
Von der deutschen demokratischen Republik bleibt nur das Deutsche und wegen diesem Deutschen gibt es dann die deutsche Wiedervereinigung. An ihrer Stunde Null spielt eine DDR-Punkband: Deutschland halt's Maul und lass die Welt in Ruh'. Die Band spielt alte Arbeiterkampflieder. Die fanden wir früher immer Scheiße, weil autoritär, aber jetzt sind sie das Einzige, was uns noch einfällt, was uns behauptet. Weil die neue Zeit verlangt, sie zu vergessen. Immer dagegen, mit den Mitteln, die die Zeit uns hinhält. Und vielleicht verstehen wir jetzt zum ersten Mal die Worte der Lieder. Jetzt haben sie irgendwie einen Sinn. Vorwärts und nicht vergessen, die Solidarität. Schön wär's. Nicht mit uns und auch nicht miteinander. Was ist Solidarität? Eine Hülse früher, eine Sehnsucht jetzt. Ein schweres Wort. Entwertet, nicht mehr spürbar. Entsolidarisierung, überall. Zusammenhänge zerfallen. Wir sind frei im freien Fall. Die Einzelnen, vorher zum Kollektiv zusammengezwungen, vereinzeln.
Die Vielen Einzelnen vereinen sich zur Nation. Die Wenigen, die was anderes wollen, verzweifeln. Die Vielen wollen in ihrer Vereinzelung Mehrheit sein. Wollen in ihrer Ohnmacht zur großen Macht gehören, Gewalt ausüben. Vor allem jetzt, wo der Bulle auf seine Schuhe kuckt. Jetzt, wo die Vietnamesen auf der Straße Zigetten verkaufen und wir nicht wissen, wo sie wohnen. Solidarität? Vorwärts und nicht zerbrechen. Das kannst du total vergessen, die Solidarität, wohin unsere Reise auch geht. Solidarität nicht mit uns, nicht miteinander, die Einzelnen waren früher schon einzeln, Punks, Gestalten, negativ, dekadent. Unsere Gemeinsamkeit war das Dagegensein. Das Dagegensein ist jetzt schwerer, jeder ist jetzt gegen was anderes. Das Dagegensein ist kein solidarisches mehr.
Vom Volkseigentum der DDR bleibt nur das Eigentum. Das verkauft die Treuhand und wir vertrauen dieser treuen Hand oder es ist uns egal. Wir waren nie Volk sondern immer nur Punk, deswegen war das Volkseigentum auch nicht unser Eigentum. Uns doch egal, was damit passiert.
Wir sehen im Fernsehen, wie Leute sich gegen die treue Hand organisieren, streiken, reden. Aber die Machtverhältnisse sind nun mal ausgewürfelt, zu spät. Nicht am Hebel der Macht gesessen, keine Ahnung von Kapitalismus gehabt, nicht schnell genug gewesen, Pech gehabt. Das ist die neue Zeit. Kein Plan, keine Sicherheit in der Gleichung mit nur Unbekannten. Nur die Ohnmacht ist sicher. Keine Instanz, die der treuen Hand auf die Finger haut. Festgenagelt von der Ohnmacht, das ist das einzig Sichere, das einzige feste Punkt.
Punk verändert sich
Punk wird aggressiver, Punk ist frustriert.
Auf einer Party wird ein Auto ins Lagerfeuer gerollt, früh steht nur noch die Karosse in der Asche, ohne Lack. Der Tank war schon leer, ist nicht explodiert. Die Zerstörungswut ist groß, so groß wie die Entwertung des Bisherigen.
Die Band spielt schneller, die Band verzieht das Gesicht. Die Band schreit: Wir verachten die Gewalt und bekämpfen sie! Vermutlich mit Gewalt. Das Pogo wird härter, die Ellenbogen spitzer, die Flecken blauer. Das Pogo ist kein Getragenwerden werden mehr. Ich muss jetzt allein aufpassen, dass ich nicht ausrutsche. Das Pogo ist ein Kampf um einen Platz auf dem Floor, um das Obenbleiben, ein Kampf gegen das Untergehen, gegen das Umfallen, gegen das Heruntergedrücktwerden. Das Pogo ist ein Kampf um einen Punkt im Raster, um einen Platz in der Subkultur, in der Gesellschaft. Kampf darum, keinen festen Standpunkt haben zu müssen und trotzdem oben zu sein. Kein Getragenwerden mehr.
Ich muss aufpassen, dass die Ellenbogen nicht in meinem Gesicht landen. Die Sicherheitsnadel im Ohr ist meine einzige Sicherheit. Und auch die halte ich nicht aus. Das Ohr eitert und juckt. Das Ohr spinnt. Ich verliere beim Pogen meinen Schuh. Ich suche ihn mit dem Gesicht auf Ellenbogenhöhe. Ich habe Angst vor der Aggressivität und vor dem Verlust, vor der Peinlichkeit, nur mit einem Schuh nach Hause hüpfen zu müssen. Ich habe Angst. Ich warte am Rand, bis das Konzert vorbei ist. Und da steht der Schuh mitten auf der Tanzfläche, einsam. Er hat ohne mich weitergetanzt.
Punk ist ein Schuh, der mir zu klein geworden ist. Weg mit der Sicherheitsnadel. Die tun mir weh. Aus der Form rauswachsen, Punk als Hülse hinter mir lassen, vielleicht ein paar Prinzipien mitnehmen. Es war nicht alles umsonst. Menschsein mit den Mitteln des Punk. Den Punk zum Beruf machen. Von der historischen Situation profitieren oder dafür zu jung oder zu alt sein. Punk ist mir nicht mehr Punk genug.
Die Geschmacksmuster ändern sich, die Gitternetze eröffnen unzählige Perspektiven, geben andere Räume vor, errichten neue Hindernisse. Darin neue Wege finden. Neue Wege finden und diese wieder unterlaufen. An den neuen Möglichkeiten vorbeilaufen.
Die Produktionsmittel ändern sich. Die Subkultur ändert sich.
Ich weiß immer noch nichts von der Punkerinnensolidarität in Olympia, nichts von Kathy Acker. Ich lese in Szenezeitschriften von Frauenpunkbands. Ich lese, das ihre Musik zwar ganz gut ist, aber dass sie sich hochgeschlafen hätten. Ich verstehe nicht, was das bedeutet. Ich hab kein Geld für Platten und CDs. Die Szenezeitschriften schreiben nichts von Punkerinnensolidarität, denn die werden nicht von Punkerinnen geschrieben sondern von Punkern. Ich verpasse die Punkerinnensolidarität im Punk, ich verpasse Riot Grrrl, denn das ist immer noch unerreichbar weit weg.
Das Ende des Punk – für die Punkerin
Ich war nie so richtig mittendrin, im Zentrum irgendeines Geschehens. Ich stand schon immer am Rand, ich hab schon immer beobachtet. Voller Sehnsucht nach der Mitte. Die Mitte ist nicht für mich. Die Mitte ist für andere, für die Wichtigen. Was mir wichtig ist, ist nicht so wichtig. Ich stehe mit dem Rücken zum Rand, mitten auf dem Rand. Weg von der Mitte, exzentrisch. Meine Mitte ist außerhalb von mir selbst.
Doch jetzt habe ich mich rumgedreht. Die Mitte im Rücken, die Mitte hinter mir, mein Interesse weg von dort, meine Sehnsucht woanders hin. Ihr könnt mich mal! Wenn meine Sehnsucht sinnlos wird,  offensichtlich unerfüllbar, rücke ich sie woanders hin! Ich will das schöne Leben! Ich scheiß auf das schöne Leben! Punk nicht mehr für das bessere Leben halten. Ich bewege mich weg, definiere gewaltsam den Strich, ziehe die Grenze zwischen mich und mich, schiebe mich so vorwärts. Ich begrenze den Schaden, ich grenze mich aus. Die Sehnsucht nach dem "wir" im Punk ist trotzdem noch da. Aber ich bin erstmal ich und weit weg.
Entpannt meinen Wert behaupten, trotz des Unterworfenseins unter den freien Fall. Angekommen im Neoliberalismus, im neuen Kapitalismus. Vorwärts und nicht zerbrechen. Einzeln, eigen bin ich. Einzeln muss ich jetzt sein, dehnbar, originell, immer anders, immer neu, kreativ, exzentrisch positioniert. Punk sei Dank, mein Standortvorteil.
Sich selbst immer noch nicht verstehen, aber erstmal mit sich einverstanden sein. Nicht immer dagegen, vor allem nicht immer gegen sich sein.
Sich auflösen in Wohlgefallen. Dem Missfallen ein Zuhause geben. Sich mit dem eigenen Hass befreunden. Mein Hass als das Beste sehen, was mir passieren kann. Hass auf alles als das einzig Echte im Moment. Meine Nutzlosigkeit schätzen, meinen Wert behaupten. Sich immer wieder selbst den Wert zuschreiben, damit den Wert vergrößern. Ich und mein Wert, wir müssen zusammenhalten.
Wichtigkeit behaupten, sich heroisieren, sich glorifizieren, Distanz zelebrieren, sich selbst auf Distanz halten, sich selbst ironisieren. Jeder Beschreibung spotten.
So paradox sein, wie man eben ist. Was für eine Bodenlosigkeit.
Es wird nicht von selbst alles gut, ich muss es wollen, mir nehmen, genießen und vor allem zeigen.
Die Enge weiten, mit weitem Herz über die Stränge schlagen, Wert gedeihen lassen auf Gedeih und Verderb. Sich selbst gelingen lassen, das offene Herz genießen, sich dabei weiter im Weg stehen, leicht sein.
Ich stülpe meinen Raum um und gewinne eine Umdrehung mit dem Kopf nach links oben, eine Perspektive, die einen neuen, größeren Raum erschafft, in den ich hineinleben kann. Aber es reicht mir nicht, den Kopf umzudrehen und eine neue Perspektive einzunehmen. Der Kopf muss umgestülpt, die Person abgeschafft werden, die hier erzählt.

Aktuelle Version vom 11. Mai 2020, 13:35 Uhr